Die Rezeption des Ephrata Cloisters und Johann Conrad Beissels in „Dr. Faustus“ von Thomas Mann

1943 begann Thomas Mann im amerikanischen Exil den Roman „Dr. Faustus- Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“, eine Auseinandersetzung mit seiner Heimat und den jüngsten Geschehnissen dort.

Aus der Sicht des Altphilologen Serenus Zeitblom wird die Lebensgeschichte des genialen Komponisten Adrian Leverkühn, seinem Kindheitsfreund, erzählt. Leverkühn geht einen Pakt mit dem Teufel ein, um Inspirationen für seine Musik zu erlangen – oder bildet sich dies nur infolge einer Syphilis-Erkrankung ein. Schließlich stirbt er 1943 in geistiger Umnachtung nach Jahren des Dahinvegetierens. Auf der zweiten Erzählebene erfährt der Leser von Zeitblom über die aktuelle Situation des deutschen Volkes zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Erinnerungen 1943-1945. Somit wird das Schicksal Leverkühns zum Symbol für das Schicksal Deutschlands.

Das Motiv der Emigration findet sich vor allem bei dem Charakter Zeitblom, der ein ambivalentes Verhältnis zum nationalsozialistischen Deutschland hat. Einerseits verabscheut er die Primitivität des Nationalsozialismus, andererseits belastet ihn die (Selbst-)Zerstörung seines Landes und dessen Kultur. Diese Haltung findet sich in seinem Verhalten wieder; er verlässt Deutschland nicht, zieht sich aber ganz in sein Privatleben zurück: charakteristisch für die innere Emigration. Verbunden damit erinnert Leverkühns Leben an jenes von Friedrich Nietzsche, dessen Geisteskrankheit als Flucht vor seiner Zeit angesehen wird. So ist Zeitbloms Entscheidung in dem Schicksal seines Freundes, der sich radikal der Gesellschaft entzieht, gesteigert und ist insofern eine Alternative zu Thomas Manns eigener Wahl, da dieser real emigrierte und an einem Kulturleben teilnahm. Beiden gemeinsam ist, dass sie produktiv blieben und kein Gehör in der Heimat fanden.

Der Gedanke der künstlerischen Produktivität in der Fremde durch bessere Lebensbedingungen und der Austausch der Emigranten, sowohl mit ihrer neuen Heimat als auch ihrer alten, taucht neben dem Prinzip der geistigen Emigration ebenfalls auf. Schon am Anfang des Romans werden das Kloster Ephrata und die Kompositionen seines Oberhauptes Johann Conrad Beissel erwähnt. Die beiden Hauptfiguren erlangen durch Leverkühns Musiklehrer Wendell Kretschmar, Nachfahre deutscher Emigranten nach Amerika und Rückkehrer in die ursprüngliche Heimat (!), Kenntnis von den Liedern Beissels. In der Beschreibung des Vortrages wird ein halb spöttischer halb bewundernder Tonfall benutzt. So wird Beissel als „Winkel-Diktator“ mit „belustigender Tatkraft“, sein Dichter-, Propheten- und Komponisten-Dasein als bloße „Rolle“ bezeichnet und durch die Erwähnung seiner mangelhaften Bildung ins Lächerliche gezogen. Seine Musik hingegen wird auch als „Musik für die Seele“ und „Vorgeschmack des Himmels“, der bei den Hörern „himmlische Sanftmut und Frömmigkeit“ hervorrief, charakterisiert. Ihren Grund hat diese ambivalente Beschreibung in dem Charakter Leverkühns, der Abstand braucht, um bewundern zu können. Letztlich ist Beissels Kompositionstechnik doch Anregung für Leverkühns eigenes Werk.

So mag die Erwähnung des Klosters Ephrata und von Beissels Liedern einerseits Kritik an den auf ihr Deutschtum fixierten Nationalsozialisten, andererseits Hoffnung auf eine Auswirkung der in der Emigration künstlerisch tätigen Deutschen auf ihr Land gewesen sein.

Verfasserin: Simone Wagner

 
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