3. Betrachtungen über die mündliche Überlieferung der Familie Schmitt

Die genealogischen Daten der Familie Schmitt sind wichtig, denn sie klären Fragen zum Beruf der Schmitt in Deutschland und bestätigen, daß Wilhelm der Alleinverantwortliche für den Weiterbestand des Familiennamens Schmitt sowohl in Deutschland wie auch in Brasilien (Stammhalter) ist, daher die Bedeutung der Ehe mit Barbara, die ihn zum Erben der Familiengüter macht (Stammhaus). Die Daten deuten auch darauf hin, dass Fischer wahrscheinlich nie Zugang zu dem an den Bruder in Deutschland gesandten Brief hatte, denn der Autor verwechselt die Namen (Wilhelm anstatt Konrad, der in Wahrheit der Name des Bruders ist, an den Philipp Peter schreibt), was unverständlich wäre, wenn er den Brief gelesen hätte.
In der Verwaltung der Stadt Alzey und auch in den Büchern der dortigen evangelischen Kirche findet sich im Zusammenhang mit Schmitt kein Hinweis auf Adel. In den drei Generationen vor der Auswanderung werde Schmitt als Landwirte[Anm. 1] oder Schuhmacher[Anm. 2] erwähnt. Und die mit den Schmitts in Deutschland verwandten Familien (Barth, Halberstadt und Schmahl) sind ebenfalls Landwirte, einfache Bauern. Die einzige Familie, die einen höheren sozialen Status als den des einfachen Bauern für sich beanspruchen könnte, ist die Famlie Justin, die auch nach Brasilien ausgewandert ist (1825), und in Deutschland eine starke Bindung an die Reformierte Kirche hatte. Unter den Justins gab es Dekane und Gemeindemänner[Anm. 3] , Berufe und Stellungen, die in der dörflichen Gesellschaft einen höheren Rang einnahmen als die des Landwirts und des Schuhmachers. Es kommt hinzu, daß sowohl der Einwanderer Valentin Justin als auch die Schwester Elisabetha Gertrude Justin, Ehefrau von Philipp Peter Schmitt, Kinder aus der 2. Ehe von Johann Wilhelm Justin waren, was bedeutet, dass sie nach deutscher Sitte kein Anspruch auf das eltertliche Erbe hatten, dies fiel dem Erstgeborenen aus 1. Ehe zu. Die Einträge in Alzey beweisen, daß beinahe alle aus dieser Region ausgewanderten Kinder ohne Erbrecht waren, es waren nicht die Erstgeborenen.[Anm. 4]
Die Forscherin Ellen Woortmann zeigt in einer Analyse, dass Kolonisten und Genealogen ihre Überelieferungen und ihre Stammbäume in verschiedener Weise bearbeiten. Sie kam zum Schluß, dass letztere dazu neigen ihre Ursprünge in Deutschland so aufzubauen „dass das Ziel dieser Elite die Legitimation eines neuen Klassenstandes, des ‚neuen Reichen' ist, ausgehend von einem vergangenen Stand“.[Anm. 5]  In Anbetracht der guten wirtschaftlichen Lage26[Anm. 6], die Philipp Peter Schmitt nach einigen Jahren in Brasilien genoß, dürfen wir annehmen, daß seine Anstrengung um die neue Lage im sozialen Umfeld zu legitimieren sei sein Hauptanliegen gewesen, und die Nutzung des „Dom“ vor seinem Namen wäre ein Kunstgriff um diesen Plan zu verfestigen, ähnlich wie Genealogen es heute tun, indem sie dazu neigen für ihre Vorfahren in Deutschland eine großartige Vergangenheit zu konstruieren, selbst wenn diese einfache Bauern waren, die auswanderten wegen des großen Elends in dem sie lebten.
Die Tatsache, daß sich Wilhelm Schmitts Ankunft in Rio Grande do Sul genau mit der Ankunft verschiedener preußischer Soldaten (Brummer) zusammenfiel, brachte die Schmitts dazu, sich die kollektiven Geschichten der Kolonie Três Forquilhas anzueignen um das Gedächtnis der Familie zusammenzustellen. Es ist ein Beispiel dafür wie Pollak über das Gedächtnis als kollektives und soziales Phänomen berichtet, das beständigen Veränderungen unterworfen ist, die es erlauben, dass ein bestimmtes Individuum sich an Begebenheiten anderer erinnern kann als ob es seine eigenen Erfahrungen seien. Die Tatsache, dass ein Mitglied der Familie - Wilhelm - im kaiserlich preußischen Militär gedient haben könnte, brachte die Familie dazu das kollektive Gedächtnis zu nutzen um den „preußischen Adel“ der Familie zu legitimieren und auf diese Art ihren sozialen Stand zu erhöhen. Wenn wir an Thomson denken, verfuhren die Schmitt bei der mündlichen Überlieferung ihrer Geschichten so, dass sie den anderen mitteilten, was sie gern wären und so die Idee festigten, dass sie in der Tat dem preußischen Adel angehörten und hiermit den in Brasilien erreichten sozialen Stand legitimierten.
Das Beispiel der mündlichen Geschichte der Familie Schmitt illustriert die Idee der brasilianischen Forscherin Janaína Amado, wenn sie schreibt, dass die symbolische Größe der mündlichen Berichte „kein Licht direkt auf die Fakten wirft, aber es den Historikern ermöglicht dem unbewußten Verlauf von Andenken und Andenken-Assoziationen nachzugehen; es ermöglicht also die verschiedenen Bedeutungen zu verstehen, die Individuen und soziale Gruppen den von ihnen gemachten Erfahrungen geben“.[Anm. 7]

Die mündlichen Überlieferungen der deutschen Kolonien, sowie das Gedächtnis der Einwanderer, besonders im 19. Jahrhundert, können von Historikern als Informationsquelle genutzt werden sofern sie wie jedes andere historische Dokument kritisch überprüft werden.

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Literatur- und Quellenangaben

Verfasser: Rodrigo Trespach

Redaktionelle Bearbeitung: Björn Effgen

Anmerkungen:

  1. Vgl. Standesregister Trauungen Bornhein. Reg. Blatt 2, 02.08.1819. AVAL. Zurück
  2. Vgl. Standesregister Sterbefälle Bornhein. Reg. Blatt 5, 17.10.1822. AVAL Zurück
  3. Der Gemeinsmann nahm einen höheren Rang ein als der Einwohner.Im Gegensatz zum einfachen Einwohner eines Ortes, stand dem Gemeindemann, Gemeindsmann oder Gemeinsmann z. B. das Recht zu, sein Vieh auf den Gemeindewiesen weiden zu lassen, sowie andere Gemeingegüter und -dienste zu nutzen; in einigen Gegenden Deutschlands waren sie sogar Bürgermeister in kleinen Orten oder Dörfern. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wich die Bezeichnung Gemeinsmann der des Bürgers. Zurück
  4. Vgl. Willems (1941) und Woortmann (1995). Identifiziert wurden sechs nach Brasilien ausgewanderte Familien aus dem Ort Heimersheim/Alzey in der Nähe von Bornheim, Herkunftsort der Ehefrau von Philipp Peter Schmitt, in welchen die Einwanderer nicht zu den Erstgeborenen gehörten, das heißt, sie waren vom elterlichen Erbrecht ausgeschloßen. Im Falle der Familien aus diesem Gebiet gilt es zu erwähnen, daß viele im Zustand vollkommenen Elends lebten, wie z.B. die Mutter des Einwanderers Borger, die nach nach der Auswanderung ihres Sohnes in einem Armenhaus [„Depot de Mendicit“] starb. Vgl. Trespach, Rodrigo. Borger, Justin, Schmitt e outras famílias de origem germânica. S.30. Zurück
  5. Vgl. Woortmann, Ellen F: Herdeiros, parentes e compadres. S.130. Zurück
  6. Eine Analyse der wirtschaftlichen Lage Schmitts findet sich in der Doktorthese von Marcos Witt, der diese Familie zu den „herausragenden“ in der Kolonie zählt. Vgl. Witt, Marcos Antônio: Em busca de um lugar ao Sol. S.90. Zurück
  7. Vgl. Amado, Janaína. O grande mentiroso. S.135. Zurück
 
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