Die Kettenwanderung nach Wisconsin
Der „rheinhessische Kolonisator“ Franz Neukirch
Einer der frühesten deutschen Propagandisten für Wisconsin war der Rheinhesse Franz Neukirch. Er brachte in seiner Heimat den Stein ins Rollen zu einem Zeitpunkt, als die dünnbesiedelte Gegend am Michigansee in Deutschland praktisch noch unbekannt war. In den späten 1840er Jahren trugen seine Berichte in der Zeitung Der Deutsche Auswanderer dazu bei, die Attraktivität Wisconsins in Deutschland zu steigern. Dennoch hat die migrationsgeschichtliche Literatur Neukirch bisher kaum Beachtung geschenkt. Persönlichkeit und Wirken dieses Pioniers sollen daher nachgezeichnet werden.
Franz Neukirch wurde 1795 oder 1796 vermutlich in Mainz als Sohn eines Forsthüters geboren. Der junge Neukirch war seit etwa 1824 großherzoglicher Revierförster auf dem Kühkopf bei Guntersblum. 1834 übernahm er zusätzlich das Revier Mombach und siedelte nach Weisenau über. Bald geriet Neukirch dort in Konflikt mit seinem Vorgesetzten, der ihm verschiedene Dienstvergehen zur Last legte. Aufgrund des Zerwürfnisses legte er sein Amt nieder und verließ aus Angst vor Strafverfolgung 1839 Deutschland unter Zurücklassung seiner Familie. Obwohl Neukirch immer wieder die Haltlosigkeit der gegen ihn erhobenen Vorwürfe betonte und eine Reihe von Honoratioren zu ihm hielten, wurde er 1845 in Abwesenheit wegen Fälschung zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
Unmittelbar nach seiner Ankunft in New York reiste Neukirch nach Milwaukee weiter und erwarb südlich der Stadt im Town of Franklin 80 acres (32 ha) Land für 100 Dollar (250 fl.). Philippina Neukirch und ihre Kinder folgten 1840 Neukirch nach Amerika. Trotz seiner harten Arbeit fand Neukirch genügend Gelegenheit, in Briefen an Familienangehörige und Freunde in Deutschland die Vorzüge des Lebens in der Wildnis zu schildern. Seine Farm in einem nicht dicht bewachsenen Wald sei sehr fruchtbar, auch hob er das gesunde Klima Wisconsins hervor. Wildbret, Fische und eine breite Auswahl an wilden Früchten und Beeren böten dem Neuankömmling eine breite Nahrungsgrundlage. Das Vieh suche sich seine Nahrung im Wald selbst. Der Kontakt zu anderen deutschen und amerikanischen Ansiedlern sei freundschaftlich, jeder habe eine Blockhütte, um die er den Wald lichte. Schulen und Kirchen seien ebenso wie Straßen und Kanäle bereits im Entstehen. Trotz niedriger Getreidepreise sei Landwirtschaft durchaus lohnend, und Neukirch resümiert: „Unter diesen Verhältnissen sollte man jeden armen und in Deutschland überflüssigen Tagelöhner hierher wünschen, wo die meisten Deutschen ihr Land in kurzer Zeit mit der Hand verdient und sich so eine unabhängige und sorgenfreie Existenz errungen haben.“
Neukirchs Briefe aus Wisconsin fanden alsbald weite Verbreitung in seiner früheren Heimat. Vermutlich sorgte bereits seine Frau dafür, daß sie in Umlauf gebracht wurden, denn noch 1840 wanderten mehrere ihnen bekannte Guntersblumer Familien nach Wisconsin aus. Zu den weiteren Adressaten gehörten sein Bruder Dominik, der Beamter in Darmstadt war, sowie ein Freund in Mainz, wo Neukirch gute Beziehungen zu einigen Notabeln hatte. Wie die Briefe verbreitet wurden, ließ sich nicht ermitteln. In rheinhessischen Zeitungen waren sie nicht zu finden. Wahrscheinlich wurden Neukirchs Berichte von Hand abgeschrieben und weitergereicht, wie dies bei Nachrichten von Auswanderern öfter der Fall war, oder als Handzettel gedruckt.
Bereits 1845 würdigte die Zeitung Wiskonsin-Banner Neukirch als verdienten Pionier Wisconsins. Sie stellte ihn neben Carl E. Hasse, den Verfasser einer der ersten deutschen Reisebeschreibungen über das Gebiet. Zwar habe Neukirch kein Buch über Wisconsin geschrieben, dennoch stehe sein Wirken dem des Buchautors in nichts nach. Neukirch habe „durch seine der Wahrheit getreuen Briefe nach Rheinhessen eine fast unwiderstehliche Auswanderungslust nach Wisconsin dort hervorgebracht [...]. Tausende von Rheinhessen wohnen nun hier, und es ist uns bis jetzt kein Fall bekannt, wo auch nur Einer derselben seine Uebersiedlung nach Wisconsin bereut hätte!“
War diese Beurteilung etwas zu hoch gegriffen, hatte Neukirch dennoch allen Grund, auf seinen der neuen Heimat erwiesenen Dienst stolz zu sein. Nach sechs Jahren Aufenthalt in Wisconsin war er auf dem Weg, ein ‚gemachter Mann' zu werden. Da das Leben eines Lateinischen Farmers den Intellektuellen Neukirch auf Dauer nicht zu befriedigen schien, verkaufte er 1844 seine Farm für $1000 und zog nach Milwaukee (Walker's Point), wo er die Brauerei seines Schwiegersohnes Johann Jakob Meier übernahm. Sein Betrieb, den er zusammen mit einem anderen rheinhessischen Einwanderer führte, war sehr erfolgreich. Den Gewinn investierte Neukirch in den Ausbau des Betriebes und in Grundstücke. Nicht zuletzt aus diesem Grund bemühte er sich weiterhin um die Ansiedlung von Landsleuten in seiner Umgebung.
Eine geeignete Plattform hierfür fand Neukirch in der zwischen 1847 und 1850 erschienenen Wochenschrift Der Deutsche Auswanderer. Seine dort abgedruckten Briefe und Berichte erreichten ein Publikum im ganzen deutschsprachigen Raum. Herausgeber des Blattes waren der Darmstädter Gymnasiallehrer Heinrich Künzel, sein Schwager Friedrich Haas und der Geograph Heinrich Malten. Ziel der Zeitschrift war es, Auswanderern Hilfestellung zu bieten und die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit „einer nationalen Leitung und Organisation der Auswanderung im philanthropischen, wirtschaftlichen und nationalen Sinn“ zu überzeugen. Die Herausgeber fanden hierbei die Unterstützung hessischer Behörden und des greisen Freiherrn Hans von Gagern.
Als Ansiedlungsgebiet empfahl die Zeitung vor allem Wisconsin. „Wenn irgend ein Gebiet, dann hat dieß für Deutschland eine hohe Bedeutung, denn es wird vor allen andern Staaten der Union ein deutsches Gebiet, der Kern deutschen Lebens in Nordamerika werden. Zwei Fünftel der Hauptstadt Milwaukee [sic], wie des ganzen Staates, sind schon deutsch [...] Zahlreiche deutsche Ansiedlungen umlagern die Stadt in großem Kreise, der sich mit jedem Jahre mehr erweitert und binnen längstens zehn Jahren das ganze Gebiet einschließen wird. Kein Staat dürfte demzufolge eher Berücksichtigung finden, wenn bald in Deutschland von Kolonisation auf Kosten des Bundes die Rede sein wird [...]“
Franz Neukirch war Kontaktmann des Deutschen Auswanderers in Milwaukee, obwohl er den Plan der Herausgeber, eine deutsche Kolonie in den Vereinigten Staaten zu gründen, für unrealistisch hielt. Statt dessen hob er hervor, „was der Mensch vermag, wenn er sich unter liberalen, das Eigenthum und die Person schützenden Gesetzen frei bewegen kann“. Neben den vorteilhaften topographischen und klimatischen Verhältnissen sei vor allem das liberale, in Nordamerika einmalige Bürgerrecht Wisconsins ein starker Anreiz zur Einwanderung in den Staat. Auch Neukirchs Schwiegersohn, der in Bremen geborene Arzt Friedrich August Lüning, gab den Lesern „Winke für Auswanderer in Wiskonsin“. Ein weiterer aus Hessen-Darmstadt (Groß-Zimmern bei Dieburg) stammender Gewährsmann eine Zeit lang Mitherausgeber des Deutschen Auswanderers war Notar Georg Fischer in Milwaukee.
Zu den gelegentlichen Mitarbeitern der Zeitung gehörte auch Bürgermeister Martin Weinerth aus Guntersblum, einer Gemeinde mit starker Wisconsin-Auswanderung. Er sammelte systematisch Briefe, die aus Wisconsin und anderen Teilen der USA in seiner Gemeinde eintrafen, und stellte sie dem Deutschen Auswanderer zum Abdruck zur Verfügung. Auch aus anderen Teilen Deutschlands sowie aus Wisconsin selbst erhielt die Redaktion Beiträge über diesen Staat.
Der Deutsche Auswanderer vermochte es nicht, seine Leser auf Dauer von seinen hochgesteckten Zielen zu überzeugen. Nach dem Ausbruch der Revolution von 1848 standen andere Themen als die Auswanderungsfrage im öffentlichen Interesse. 1849 hatte die Zahl der Abonnenten bereits so stark abgenommen, daß die Druckkosten teilweise von den Herausgebern bestritten werden mußten, ein Jahr später wurde das Erscheinen der Zeitung eingestellt. Ihr Konkurrenzblatt, die Allgemeine Auswanderungs-Zeitung aus Rudolstadt, hielt sich bis in die 1870er Jahre, sie war in Rheinhessen jedoch kaum verbreitet. Ihre Bedeutung erhielten diese Organe vor allem dadurch, daß die für Auswanderer nützlichen Artikel in Zeitungen und Intelligenzblättern nachgedruckt wurden.
Formen und Verlauf der Kettenwanderung
Im Frühjahr 1840 traf Neukirchs erster ausführlicher Bericht aus Wisconsin bei seiner Frau ein. Offenbar setzte Philippina Neukirch ihre Umgebung von den vorteilhaften Verhältnissen in Kenntnis, die ihr Mann angetroffen hatte und lud Bekannte ein, ihr zu folgen. Auf ihrer Reise wurden sie und ihre Kinder von Bekannten begleitet. Wenig später ließen sich fünf Familien aus Neukirchs langjährigem Wohnort Guntersblum und einige junge Männer aus weiteren Ortschaften des Oppenheimer Raumes (Dienheim, Schwabsburg, Mettenheim) in der Gegend von Milwaukee nieder. Auch aus Gensingen im Westen der Provinz machten sich 1840 einige Familien auf den Weg an den Michigansee.
Rasch verbreiteten sich Berichte über die Attraktivität Wisconsins in zahlreichen Gemeinden Rheinhessens. Der Schwerpunkt der Auswanderung lag zunächst in den westlich von Oppenheim gelegenen Dörfern Schwabsburg, Köngernheim und Selzen. Allein aus Selzen kamen 1843 rund 60 Personen in das Territorium am Michigansee. In diesem Jahr breitete sich die Wanderungsbewegung bis in die Gegend von Wörrstadt (Undenheim, Schornsheim, Spiesheim und Wallertheim) aus.
Bis zur Jahrhundertmitte waren die meisten Dörfer des Raumes zwischen Oppenheim und Wörrstadt in unterschiedlicher Intensität an der Auswanderungswelle nach Wisconsin beteiligt. Auch eine Reihe von Bewohnern der Räume Ingelheim (Stadecken, Essenheim) und Alzey (Framersheim, Biebelnheim) schlossen sich ihnen an. Im Süden und Westen Rheinhessens wurde Wisconsin nur selten als Auswanderungsziel gewählt. Die dortige Bevölkerung bevorzugte andere Gegenden der Vereinigten Staaten. Eine Ausnahme bildete allenfalls Bechtheim: Zwischen 1847 und der Mitte der 1850er Jahre kamen rund 70 Einwohner der Gemeinde in den Raum zwischen Milwaukee und Sheboygan. Hierfür dürfte Adam Jung verantwortlich gewesen sein, der 1847 mit zwei weiteren Bechtheimern nach Washington County übersiedelte. Jung stammte aus dem 15 Kilometer nordwestlich von Bechtheim gelegenen Undenheim und war wohl in seinem Geburtsort auf Wisconsin hingewiesen worden.
Meistens reisten Personen im Familienverband nach Wisconsin. Der Anteil der Einzelauswanderer in den 1840er und 1850er Jahren läßt sich anhand der Quellen nicht genau beziffern, es ist jedoch anzunehmen, daß er etwas geringer war als bei rheinhessischen Emigranten allgemein. Die Auswanderung nach Wisconsin betraf vor allem ländliche Gebiete, junge Menschen, die allein nach Amerika gekommen waren, fanden hingegen häufig in den zahlreichen Städten des Ostens Arbeit. Sie waren meist nicht in der Lage, sogleich Land zu erwerben. Eine Schätzung von 75 Prozent Familienwanderern und 25 Prozent Alleinreisender dürfte der Realität nahekommen.
Die Familienwanderung erfolgte oft in Etappen. Mitunter wurden ein oder mehrere erwachsene Söhne von ihren Eltern auf Erkundungstour nach Amerika geschickt. So kamen Jakob und Karl Friedrich Best 1840 aus Mettenheim nach Milwaukee. Sie hatten dort einen erfolgreichen Start im Gewerbe ihres Vaters, der Essigfabrikation. Karl kehrte in seine Heimatgemeinde zurück, wo er seinen Verwandten von den guten Startbedingungen in Wisconsin berichtete. 1844 brachte er seine gesamte Familie nach Milwaukee, darunter seinen über 80jährigen Großvater. Ebenfalls drei Generationen waren an der Kettenwanderung der Familie Spindler aus Guntersblum beteiligt. Ein Sohn kam 1848 nach Sheboygan County, die Eltern folgten mit einigen Kindern ein Jahr später. 1850 ließ sich schließlich der älteste Sohn mit seiner Frau und zwei Kindern in ihrer Nähe nieder. Mitunter wurden ganze Verwandtenkreise aus Rheinhessen nach Wisconsin verpflanzt. Die Familien Schowalter, Jöckel, Weinheimer und Dautermann, die zwischen 1843 und 1845 im Town of Jackson siedelten, stammten alle von dem Leineweber Johannes Roth aus Wallertheim (1754-1811) ab.
Kettenwanderungen zogen sich mitunter auch über längere Zeiträume hin. 1843 wanderte die Familie Johann Diefenthäler aus Spiesheim nach Germantown aus. Einem Brief zufolge dachten sein Bruder und sein Schwager damals ebenfalls an einen Wegzug, und Diefenthälers Frau Katharina ermunterte sie mit den Worten: „Ich erwarte Euer [sic] mit grossem Verlangen, indem wir wünschen Euer Nachbar zu werden“. Es vergingen jedoch noch vier Jahre, bis der erste Verwandte, der Abb. 19: Verwandtschaftsverhältnisse rheinhessischer Einwanderer in Jackson (siehe Datei dissquer.doc) Schuhmacher Jakob Hartmann, der Einladung nachkam. 1848 folgte Diefenthälers jüngerer Bruder Anton als nächstes Familienmitglied. Dieser wurde zur Triebfeder für die Übersiedlung weiterer Personen aus dem Bekanntenkreis. Anton verbrachte den Winter 1851/52 in Spiesheim und brachte auf der Rückreise seine Braut Elisabeth Gerlach, deren Bruder Wilhelm und weitere Personen nach Wisconsin mit.
Nachweise
Verfasser: Helmut Schmahl
Redaktionelle Bearbeitung: Dominik Kasper
Textauszug aus:
- Verpflanzt, aber nicht entwurzelt: Die Auswanderung aus Hessen-Darmstadt (Provinz Rheinhessen) nach Wisconsin im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main (u. a.) 2000 (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 1): Kapitel 5.4.1. Der "rheinhessische Kolonisator" Franz Neukirch und Kapitel 5.4.2. Formen und Verlauf der Kettenwanderung