Wanderungsformen: Die Bedeutung der Kettenwanderung

„ […] nur wenige Jahre vergingen, da drang aus den jungen Kolonien die Nachricht in das alte Vaterland, wie wohl es den einst Armen und Elenden im neuen Lande gehe, wie sie ein eigen Hab und Gut bewirtschafteten; wie sie mit jedem Axtschlag, den sie führten, mit jeder Furche, die sie zogen, den mühsam errungenen Besitz befestigten; wie sie nicht mehr unter der Leitung von vornehmen Herren standen, sondern selbstdenkend und selbstbestimmend im freien Lande schalteten. Die Sehnsucht nach wirthschaftlicher, religiöser und in manchen Fällen politischer Selbständigkeit hatte die ersten Pioniere in das Land gezogen. Nun, da sie ihr Ziel erreichten, folgte der Verwandte dem Verwandten, der Freund dem Freunde, der Nachbar dem Nachbar, der Landsmann dem Landsmann in das vielversprechende und viel haltende junge Land.“[Anm. 1]

Als Wilhelm Hense-Jensen diese Zeilen 1900 schrieb, hatte die deutsche Einwanderung weitgehend ihr Ende gefunden. Seine Charakterisierung zeigt trotz ihres verklärenden Grundtenors, dass die Auswanderung im 19. Jahrhundert oft keine Reise ins Ungewisse war. Viele Immigranten, insbesondere in neu besiedelten Gebieten, wo Land günstig zu erwerben war, suchten die Nähe von Landsleuten und ließen sich in Gruppenansiedlungen nieder.[Anm. 2] Vielfach erhielten diese Settlements ihre Prägung durch Kettenwanderungen, die sich über Jahrzehnte hinzogen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist das östlich von St. Louis gelegene St. Clair County in Illinois.[Anm. 3] In Belleville und Umgebung siedelten in den 1830er Jahren die angesehenen, aus Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen ausgewanderten pfälzischen Familien Engelmann und Hilgard. Ihnen folgten in den Jahrzehnten bis zum Bürgerkrieg zahlreiche weitere Immigranten aus der Pfalz und Rheinhessen.

Andere umfangreiche Kettenwanderungen aus dem rheinland-pfälzischen Raum sind bisher kaum erforscht. Zu den wenigen dokumentierten Fällen gehört eine Serie von Auswanderungen aus rheinhessischen Dörfern nach Wisconsin in den Jahrzehnten vor dem amerikanischen Bürgerkrieg.[Anm. 4] Diese Kettenwanderung wurde von Franz Neukirch ausgelöst, der sich 1839 in der Gegend von Milwaukee an der damaligen euroamerikanischen Siedlungsgrenze niederließ. Briefe des ehemaligen Försters animierten bereits ein Jahr später Bewohner seines langjährigen Wohnortes Guntersblum und der Nachbardörfer zur Übersiedlung nach Wisconsin. In den kommenden Jahren wurde das Gebiet zum bevorzugten Ziel zahlreicher Emigranten aus der Gegend zwischen Oppenheim, Wörrstadt und Alzey. In manchen Dörfern hielt die Auswanderung über ein Jahrzehnt an, mitunter wurden ganze Verwandtschaftskreise verpflanzt. Zunächst siedelten die Rheinhessen vor allem nordwestlich von Milwaukee in Washington County, wo es ihnen in den 1840er Jahren gelang, ein relativ geschlossenes Siedlungsgebiet in vier Townships zu bilden. Viele Familien profitierten von günstigen Landverkäufen der amerikanischen Regierung. Als das Angebot an Regierungsland in Washington County knapp wurde, zogen neu ankommende Rheinhessen seit 1847 in das rund 50 Kilometer nordöstlich gelegene Township Rhine in Sheboygan County. Landsleute, die zuvor einige Jahre in Germantown gelebt hatten, schlossen sich ihnen an, so dass Rhine den Charakter einer Tochterkolonie von Germantown erhielt. Auch in Milwaukee, der größten Stadt Wisconsins und anderswo ließen sich Rheinhessen nieder. Um 1860 dürfte ihre Zahl im ganzen Staat rund 2000 Personen betragen haben.

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Verfasser: Helmut Schmahl

Redaktionelle Bearbeitung: Dominik Kasper

Anmerkungen:

  1. Wilhelm Hense-Jensen: Wisconsin's Deutsch-Amerikaner bis zum Schluß des neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. Milwaukee 1900, S. 50. Zurück
  2. Wegweisend zum Thema Kettenwanderungen: Walter D. Kamphoefner: The Westfalians: From Germany to Missouri. Princeton 1987. Zurück
  3. Vgl. Paul, Auswanderungen, S. 66-67. Zurück
  4. Die nachstehenden Angaben beziehen sich auf Schmahl, Verpflanzt, S. 109-147. Zurück
 
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