Jüdische Auswanderung

Seit der „Machtergreifung“ Hitlers am 30. Januar 1933 unterlagen die deutschen Juden einer ständigen Bedrohung.  Der Antisemitismus stellte eine tragende Säule der NS-Ideologie dar. Dennoch wusste niemand, ob den ausgestoßenen Drohungen Taten folgen würden oder nicht – und erst recht konnte sich niemand vorstellen, was tatsächlich folgen sollte: der Holocaust.

Staatlicher Terror

Die ersten antijüdischen Maßnahmen der NS-Regierung nach der Machtergreifung setzen bereits im Frühjahr 1933 ein. Während des sogenannten „Judenboykotts“ am 1. April 1933 wurde die Bevölkerung aufgefordert, jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Anwaltskanzleien, Banken und Arztpraxen zu boykottieren. SA und SS hinderten Kunden vielerorts unter Androhung von Gewalt am Betreten von Geschäften.  Diese Aktion sollte bereits deutlich machen, dass die jüdische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit von der NS-Führung nicht als Teil des deutschen Volks betrachtet wurde. Doch die meisten der rund 525.000 Juden in Deutschland waren zu diesem Zeitpunkt noch der Auffassung, die antisemitischen Ausschreitungen und Übergriffe würden sich wieder legen.
Nach dem Boykott folgte der nächste Schritt zur Ausgrenzung der Juden aus der „Volksgemeinschaft“. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 konnten „nichtarische“ Beamte in den Ruhestand versetzt werden. Laut diesem sogenannten „Arierparagraphen“ war „nichtarisch“, wer mindestens einen jüdischen Eltern- oder Großelternteil hatte. Der „Arierparagraph“ wurde von nahezu sämtlichen Organisationen und berufsständischen Vereinigungen übernommen, so dass viele Juden ihre Erwerbsmöglichkeiten verloren. Während der Bücherverbrennungen vom 10. Mai 1933 brannten in vielen deutschen Universitätsstädten „undeutsche Schriften“, darunter auch von vielen jüdischen Autoren. Das „Gesetz zur Reichskulturkammer“ vom 22. September führte schließlich zu einem faktischen Berufsverbot von Juden an nichtjüdischen Kultureinrichtungen.

Die erste Welle der Emigration

Die Summe dieser Maßnahmen führte schließlich zu einer ersten Welle der Emigration von Juden aus Nazi-Deutschland. Sie begann unmittelbar nach der Machtergreifung und ging bis ins Jahr 1935 hinein. Sie zeichnet sich aus durch eine größtenteils überstürzte Auswanderung, die von der Illusion lebte, dass das nahe Ende des Nationalsozialismus eine baldige Rückkehr ermöglichen würde. Die Ziele der Emigranten waren vor allem die europäischen Nachbarländer. Nur selten emigrierte jemand zu dieser Zeit schon nach Übersee. Die Emigranten hatten nur selten konkrete Pläne für ihre Niederlassung im Ausland, ihnen ging es vielmehr darum, den nationalsozialistischen Repressionen zu entkommen. 1934 ebbte diese erste große Auswanderungswelle wegen des scheinbaren Nachlassens des anti-jüdischen Terrors und der Hoffnung auf ruhigere  Zeiten nach dem „Röhm-Putsch“ im Sommer 1934 ab. Viele in Deutschland verbliebene gaben sich der trügerischen Hoffnung hin, Juden könnten in Deutschland unter einigermaßen normalen Umständen weiterleben.

Die zweite Auswanderungswelle

Mit dem Erlass der „Nürnberger Gesetze“ am 15. September 1935 erwies sich diese Hoffnung als falsch. Von nun an waren die deutschen Juden Bürger minderen Rechts. Sie wurden im Gegensatz zu den mit vollen Rechten versehenen „Reichsbürgern“, die „deutschen oder artverwandten Blutes“ sein mussten zu „Staatsangehörigen" des Deutschen Reichs ohne politische Rechte abgestuft. Als „Volljude“ wurde definiert, wer von mindestens drei jüdischen Großeltern abstammte. Wer einen oder zwei jüdischen Großelternteilen hatte, die entweder selbst dem Jüdischen Glauben angehörten oder mit einem „Volljuden“ verheiratet gewesen waren, wurde bereits als „Mischling“ angesehen und war damit auch ein Bürger minderen Rechts. Das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ verbot Eheschließungen zwischen Nichtjuden und Juden und stellte auch deren als „Rassenschande“ bewerteten Geschlechtsverkehr unter Strafe. Diese Gesetze führten zur zweiten großen Auswanderungswelle, nachdem die Zahlen der jüdischen Auswanderer schon wieder gesunken waren. Gleichzeitig setzte eine verstärkte Binnenwanderung innerhalb Deutschlands ein. Man zog von den deutschen Kleingemeinden in die Großstädte, um sich durch die Anonymität vor der anti-jüdischen Hetze zu schützen. Zudem ermöglichte ein Wohnsitz in einer Großstadt später bessere Kontakte zu ausländischen Konsulaten und zu jüdischen Hilfsorganisationen. Es stellte sich heraus, dass die Binnenwanderung keinen Schutz bot, anders als es die Auswanderung tat. Nach der eher panischen ersten Auswanderungswelle lief nun eine einigermaßen geregelte Emigration ab. Deutsche und jüdische Auswanderungshilfsorganisationen boten Unterstützung bei der Auswanderung.

Auswanderungsorganisationen

Es gab zwei Arten, wie die Auswanderung aus Deutschland vor sich gehen konnte: organisiert oder unorganisiert. Dabei bot die Flucht über eine Organisation bessere Chancen. Zwei Gruppen mit organisatorischem Netzwerk -  Kommunisten und Zionisten – versuchten, ihren Anhängern zur Flucht zu verhelfen. Diese kümmerten sich für ihre Mitglieder beispielsweise um das Verschaffen von (falschen) Papieren oder später auch um das Untertauchen im Untergrund bis zum Zeitpunkt einer möglichen Flucht. Die Zionisten kümmerten sich vor allem um jüdische Jugendliche und Kinder. So gelang es einer zionistischen Jugendorganisationen beispielsweise,  10.000 Kinder als „Kindertransport“ von England nach Palästina zu verschiffen. Sonst gestalteten sich die Möglichkeiten der Zionisten als gering, da die Einwanderung nach Palästina von den Briten praktisch komplett unterbunden wurde. Deswegen fanden oft Verschickungen in Drittländer, zum Beispiel nach England, Holland oder Dänemark statt.
Die typische jüdische Auswanderung fand innerhalb der Familie statt. Diese wurde versucht, zusammen zu halten. War dies nicht möglich, wurden oftmals die Kinder alleine ins Ausland geschickt, oft auch zu entfernten Verwandten.  Viele Familien konnten sich daher erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder vereinen.

Konsequenzen der Auswanderung

Bei Auswanderung in ein fremdes Land drohten den deutschen Juden ökonomische und administrative Schwierigkeiten sowie politische Hindernisse, die von potentiellen Aufnahmeländern in den Weg gelegt wurden. Ein Statusverlust war zu erwarten, da im Großteil der Fälle eine für die Emigrationsländer passende berufliche Qualifikation fehlte.  Dies und das Selbstverständnis der hoch assimilierten deutschen Juden führten dazu, dass viele mit der Auswanderung  lange abwarteten, bis sie sich zu diesem Schritt entschlossen.

Weltweite Wirtschaftskrise

Die innere Verbundenheit mit ihrer Heimat hatte viele deutsche Juden davon abgehalten, rechtzeitig die vorgeschriebenen Auswanderungsformalitäten vorzunehmen. Zudem war die Mehrheit der deutschen Juden 1933 strukturell nicht auf eine Massenauswanderung vorbereitet. Die Probleme lagen in der Verwurzelung im Deutschtum, der ungünstigen beruflichen Struktur und der deutlichen Überalterung der Gemeinden. Viele Staaten gewährten nur bestimmten Berufsgruppen Aufnahme. In den 30er Jahren herrschte weltweit immer noch eine Wirtschaftskrise. Daher waren die Zeiten, in denen man die politischen oder religiösen Flüchtlinge unterstützt und mit offenen Armen aufgenommen hatte, längst vorüber. Im 19.  und beginnenden Jahrhundert hatten zahlreiche überseeische Staaten noch  die Einwanderung in dem Bestreben zu forcieren versucht ihre gewaltigen Gebiete zu erschließen und zu bevölkern. Diese Politik gehörte jedoch der Vergangenheit an. Kein Staat wollte in solch wirtschaftlich schwierigen Zeiten sein eigenes Proletariat durch mittellose Immigranten vergrößern. Es ist eine besondere Tragik für die Juden, dass die nationalsozialistische Machtübernahme in eine Zeit fiel, in der die Auswanderungsmöglichkeiten wegen der weltweiten Krise so gering waren wie niemals zuvor.

Die Konferenz von Evian

Die Konferenz von Evian widmete sich im Juli 1938 dem Problem der jüdischen Auswanderung aus Deutschland. Eingeladen hatte Präsident Roosevelt. Die Konferenz schloss mit vagen Zusicherungen, dass bestehende Einwandererquoten in Zukunft ausgeschöpft werden sollten. Aber letztendlich geschah nichts, was die Emigrationsmöglichkeiten der Juden aus Hitlers Machtbereich reell verbessert hätte.

Aufnahme in die USA

Die meisten Länder nahmen daher nur eine kleine Zahl von Flüchtlingen auf. Diese wurden auch nach der Konferenz von Evian nicht erhöht. Die einzige Ausnahme stellten die USA dar. Sie öffneten sich einer größeren Anzahl von jüdischen Emigranten. Für eine Einwanderung war dennoch noch eine Bürgschaft („Affidavit of support“) erforderlich, der die Unterstützung eines in den USA lebenden Verwandten für den Emigrant garantierten. Dennoch waren die Quoten so angelegt, dass auch für diejenigen, die eine solche Bürgschaft vorweisen konnten, immer noch lange Wartezeiten bestanden.

Widersprüchlichkeit der NS-Politik

Die Auswanderung der Juden wurde von den deutschen Behörden gleichzeitig forciert und gebremst. Bis zu den Nürnberger Gesetzen hatte es keine klare Konzeption zur „Judenfrage“ gegeben. Dann war das Ziel, die Juden zur Auswanderung zu treiben. Zum einen wurde die jüdische Bevölkerung aus Wirtschaft und Gesellschaft immer mehr ausgeschlossen. Diese Repressionen förderten den Emigrationswillen. Zudem  übte die Gestapo massiven Druck aus. Daneben hemmten aber die Ausplünderungen, Vermögenskonfiskationen und ruinöse Abgaben wiederum die Möglichkeiten zur Auswanderung. Bei der Auswanderung wurden hohe Abgaben fällig, die praktisch einer Enteignung gleich kamen. Somit hatten nur wohlhabende Juden haben überhaupt die Chance, legal in fremdes Land zu emigrieren. Die „Reichsfluchtsteuer“ sowie andere auf die wirtschaftliche Vernichtung zielende Verordnungen wurden nicht zuletzt deswegen erlassen, weil man die Juden völlig verarmt ins Ausland schicken wollte. Die Nazis hofften, somit den Antisemitismus zu exportieren, wenn die verarmten Juden in ihren Emigrationsländern zum sozialen Problem würden. Die ablehnende Haltung vieler Länder war Wasser auf den Mühlen der NS-Propaganda. So höhnte Hitler in einer Rede vom 30. Januar 1939: „Es ist ein beschämendes Schauspiel, heute zu sehen, wie die ganze Welt der Demokratie vor Mitleid trieft, den armen gequälten jüdischen Volk gegenüber allein hartherzig verstockt bleibt angesichts der dann doch offenkundigen Pflicht, zu helfen.“ [Anm. 1]

Die dritte Auswanderungswelle

Die Politik der gleichzeitigen Behinderung und dem Druck zur Emigration wurde 1938 aufgegeben. Während der „Juniaktion“ 1938 wurden ca. 1.500 jüdische Männer verhaftet und in KZ verschleppt. Eine Freilassung war nur möglich, wenn die Familie eine konkrete Auswanderungsmöglichkeit direkt aus KZ vorlegen konnte. Höhepunkt der Eskalation der antisemitischen Maßnahmen war die „Reichspogromnacht“ vom 9./10. November 1938. In ganz Deutschland wüteten SA und SS. Jüdische Synagogen wurden angesteckt, die Schaufenster von jüdischen Geschäften wurden zertrümmert und die Wohnungen jüdischer Bürger wurden demoliert und ihre Bewohner misshandelt. Nach dieser Terror-Nacht waren 91 Menschen gestorben, 267 jüdische  Gottes- und Gemeindehäuser zerstört und 7.500 jüdische Geschäfte zertrümmert. An den Folgen der Ausschreitungen starben insgesamt weit mehr als 1.300 Menschen. Am 10. November wurden mehr als 30.000 männliche Juden in KZ verschleppt. Dieser Terror und die zunehmende Entrechtung, die Enteignungen und "Zwangsarisierungen" sollten die Juden zur Auswanderung zwingen.
Nach den Novemberpogromen gab es daher nur noch wenige Juden, die nicht nach einer Emigrationsmöglichkeit suchten. Die vorher relativ geregelte Emigration erlebte einen völligen Zusammenbruch. Die Stimmung schlug um zu einem: „Rette sich, wer kann!“ Die Überschwemmung des Auslands mit Auswanderungs-Gesuchen führte dazu, dass die vorgesehenen Quoten mehr als erschöpft waren. Dies stellte für die Juden eine ausweglose Situation dar. Besonders die jüdischen Frauen bemühten sich für ihre in KZ verhafteten Männer um die notwendige Papiere, was jedoch oftmals schwierig war. Der Handel mit dubiosen Tickets und wertlosen Einreisevisa florierte. Für viele Länder, zum Beispiel Kuba, war bei Landung ein Vorzeigegeld als Anfangskapital nötig, das wegen der deutschen Devisenbestimmungen nur von ausländischen Verwandten oder Freunden gestellt werden konnte. Ein Pass konnte bei der Polizei beantragt werden, wenn Unbedenklichkeitsbescheinigungen verschiedener Finanzämter, dass alle Steuern bezahlt und auch die sogenannte „Reichsfluchtsteuer“ entrichtet worden war. Zudem wurde nach der Reichspogromnacht von den deutschen Juden ein Anteil an der „Sühneabgabe“ von insgesamt  1 Milliarde Reichsmark gefordert. Diese ganzen Summen zu begleichen war schwierig für die deutschen Juden, da seit Ende April 1938 jüdische Vermögen beschlagnahmt worden waren.

Zweiter Weltkrieg

Mit Kriegsbeginn 1939 wurde es noch schwieriger auszuwandern. Der atlantischer Seekrieg beeinträchtigte die Seewege nach Nord- und Südamerika stark, da nur noch spanische, portugiesische, argentinische und chilenische Reedereien den zivilen Schiffsverkehr mit der Neuen Welt aufrechterhielten. Nach dem Kriegseintritt Italiens im Sommer 1940 war auch das Mittelmeer zum Kriegsgebiet geworden. Daher war keine Einschiffung in italienische und griechische Häfen mehr möglich.  Über Italien hatte auf dem Seeweg die illegale Emigration nach Palästina stattgefunden. Somit war auch dieser Weg geschlossen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im  Juni 1941 führte auch kein Weg mehr nach Ostasien mit der Transsibirischen Eisenbahn. Von dort hatte es die Möglichkeit zur Weiterreise nach Shanghai und Hongkong gegeben.  Zudem unterbanden die kriegführenden Länder jede Einwanderungsmöglichkeit. Die neutralen Staaten beschränkten die Zahl der Einwanderer massiv.

Ausreiseverbot und Ausbürgerung

Am 23. Oktober 1941 wurde ein Ausreiseverbot erlassen. Die NS-Politik gegenüber den Juden hatte sich wiederum gewandelt. Ziel war nun nicht mehr die Austreibung aus Deutschland sondern die Vernichtung des europäischen Judentums. Die Vorbereitungen zu den Deportationen waren 1941 abgeschlossen. Die NS-Regierung begann, die „Endlösung“ in Angriff zu nehmen. Am 21. November 1941 erfolgte die pauschale Ausbürgerung aller deutschen Juden. Sie machte aus den Flüchtlingen Staatenlose, was die Aufnahme in potentielle Asylländer zusätzlich behinderte.

Ausreise aus Europa

 Die Besetzung  weiter Gebiete Europas durch das Deutsche Reich entzog zahlreichen Flüchtlingen das sicher geglaubte Refugium und zwang sie zur weiteren Emigration. Dies geschah vor allem nach dem Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940. Eine neue Fluchtwelle schwappte  größtenteils über die Pyrenäen nach Spanien, Portugal und Übersee. Nur ein kleiner Teil wandte sich in neutrale Länder wie die Schweiz oder nach Schweden. Nicht allen gelang die Flucht. Nur wenige konnten im besetzen Europa mit gefälschten Papieren oder in Verstecken überleben. Viele wurden auch nach Besetzung ihrer Asylländer deportiert. Die Repressionen mit dem Ziel der Auswanderung hatten sich zur gezielten Vernichtung des europäischen Judentums gesteigert.

Verfasserin: Evelyn Heid

Anmerkungen:

  1. Domarus, Max: Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, Bd. II 1, München 1965, S. 1065. Zurück
 
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