0.Die Auswandererfamilien Reuter, Wagner und Wickert und ihre Einflüsse auf die Entwicklung der Stadt Morro Reuter (Rio Grande do Sul, Brasilien)

von Tafarel Schmitt

0.1.1 Die Auswanderung im 19. Jahrhundert

Über die deutsche Auswanderung nach Brasilien im 19. Jahrhundert ist bereits viel geschrieben worden. Es ist jedoch wichtig, sich daran zu erinnern, dass Deutschland als Nationalstaat erst 1871 entstand, als die Vereinigung mehrerer kleiner Königreiche und autonomer Staaten stattfand, die die deutsche Sprache gemeinsam hatten. Zuvor bildeten diese Königreiche und Staaten den Deutschen Bund, der 1815 nach der Niederlage Napoleons auf dem Wiener Kongress gegründet worden war. Auf diesem Kongress wurden die Ländereien zwischen den Hauptsiegern der napoleonischen Kriege – Österreich, England, Russland und Preußen – aufgeteilt. [Anm. 1] Deshalb wurde die Region von Hunsrück, Saar und Pfalz, aus der ein Großteil der Auswanderer nach Brasilien im 19. Jahrhundert kam, ab 1815 Teil des Königreichs Preußen. Abbildung 1 zeigt eine Karte des Deutschen Bundes aus dem 19. Jahrhundert.

© IEG / A. Kunz 2004
Abbildung 1 - Karte des Deutschen Bundes im 19. Jahrhundert
© IEG / A. Kunz 2004 (https://www.ieg-maps.de/mapsp/mapd814.htm)

Obwohl die Region von Hunsrück, Saar und Pfalz dem einflussreichen Königreich Preußen angegliedert wurde, war die dortige Bevölkerung sehr arm, und die Region war noch stark von den Kriegsauswirkungen betroffen. [Anm. 2] Im 19. Jahrhundert nahm die Bevölkerung stark zu, was dazu führte, dass ererbte Besitztümer unter mehr Menschen aufgeteilt wurden, so dass das Ackerland nicht mehr ausreichte, um eine Familie zu ernähren, und die Bevölkerung zusätzliche Tätigkeiten übernehmen musste, wie z. B. der Spinnerei in Heimarbeit. [Anm. 3]

Im Gegensatz zu dieser preußischen Region erschien die Situation in Brasilien sehr vielversprechend. Es war ein neues, unabhängiges Land, seine Wirtschaft war im Aufschwung und machte das Land attraktiv für Bedürftige. Außerdem benötigte das Imperium Soldaten, um brasilianisches Land gegen Angriffe auf das erst seit kurzem unabhängige Land zu verteidigen. [Anm. 4] Aus diesem Grund und auch wegen des Einflusses von Kaiserin Leopoldina, die Österreicherin war, beschloss die brasilianische Regierung, die Einwanderung von Deutschen nach Brasilien zu fördern.

Ein weiterer Grund für das brasilianische Reich, die Preußen einzuladen, war die Notwendigkeit, die landwirtschaftliche Produktion für die menschliche Ernährung zu steigern. Denn die Wirtschaft des kolonialen Brasiliens war exportorientiert, und es herrschte ein Mangel an Grundnahrungsmitteln. In diesem Sinne sollten sich die Ausländer dieser Produktion widmen, die sie in ihrem Heimatland schon gewohnt waren. [Anm. 5]

Neben diesen Gründen war der Süden auch deshalb für die Einwanderung prädestiniert, weil seine klimatischen und geografischen Bedingungen denen in Europa ähnlich waren. Mit anderen Worten, die Landschaft war flach, die Natur, das Klima und die malerischen Landschaften waren denen ihrer Heimat ähnlich, und der Boden war gut für den Ackerbau, die Viehzucht und den Weinbau geeignet. [Anm. 6]

So begann die deutsche Auswanderung nach Rio Grande do Sul. Auf Einladung von Major von Schäffer [Anm. 7] landeten am 25. Juli 1824 39 Einwanderer in São Leopoldo. Sie folgten dem Versprechen, Land, Saatgut, Vieh, Baumaterial und Werkzeuge für die Arbeit zu erhalten sowie die brasilianische Staatsbürgerschaft und eine Steuerbefreiung für fünf Jahre.

São Leopoldo wurde als Region für die erste deutsche Siedlung in Südbrasilien ausgewählt, weil es dort seit dem vorigen Jahrhundert eine Sklavenfarm namens Feitoria do Linho Cânhamo gab und ein Teil der bestehenden Struktur für die Aufnahme der ersten Siedler genutzt wurde, die mit dem Schiff São Joaquim Protetor aus Rio de Janeiro kamen. Zusätzlich zu dieser ersten Gruppe kamen 1824 zwei weitere Gruppen von mehr als 80 Auswanderern und im darauf folgenden Jahr mehr als tausend. Mit der Besiedlung der Gebiete um São Leopoldo trugen die Einwanderer zur Entwicklung der Region bei. [Anm. 8]

Der deutsche Auswanderungsprozess nach Rio Grande do Sul hatte drei Hauptphasen: Die erste zwischen 1824 und 1830, die zweite zwischen 1846 und 1889 und die dritte zwischen 1890 und 1914, wobei in der ersten Phase etwa 5.000 Deutsche nach Rio Grande do Sul auswanderten. [Anm. 9] Sie kamen nach São Leopoldo in der Region des Vale dos Sinos, breiteten sich anschließend in dem Gebiet aus und bildeten Siedlungen wie die von Novo Hamburgo, Dois Irmãos, Campo Bom, Ivoti, Estância Velha, Sapiranga und São José do Hortêncio. In dieser Phase entstanden weitere Siedlungen wie Taquara, Igrejinha, Três Coroas, Torres und Três Forquilhas.

Die Reisen nach Brasilien fanden unter prekären Bedingungen statt und waren von großen Schwierigkeiten geprägt; einige Menschen starben während der Überfahrt. [Anm. 10] Hinzu kamen die Herausforderungen, denen sich die Einwanderer bei ihrer Ankunft gegenübersahen. Obwohl das brasilianische Reich Arbeitskräfte für die Siedlung des Landes benötigte, gab es keine Organisation für die Aufnahme der Einwanderer, weshalb sie nicht alles bekamen, was ihnen versprochen wurde. Um die Menschen zur Auswanderung zu bewegen, bot die Regierung Saatgut und viel Land an. Als die Einwanderer in Brasilien ankamen, sahen sie sich jedoch mit Urwäldern konfrontiert, die gerodet werden mussten, um sie für die Bepflanzung zu nutzen. Die Menschen arbeiteten jeden Tag, auch sonntags, oft bei großer Hitze, um zu pflanzen, zu ernten und ihre Erzeugnisse zu verkaufen. [Anm. 11]

Wie bereits erwähnt, hat sich das heutige Vale do Rio dos Sinos in der ersten Phase der Auswanderung sehr stark entwickelt. Mehrere Siedlungen wurden gegründet und entwickelten sich mit dem Bau von Häusern, Geschäften und Gemeinschaftsgebäuden, die sowohl als Schulen und als Kirchen genutzt wurden.

Ab 1830 kam der Auswanderungsprozess jedoch zum Stillstand. Einer der Gründe dafür war das Haushaltsgesetz (15.12.1830), das alle finanziellen Hilfen für die ausländische Siedler im ganzen Land strich. [Anm. 12] Ein weiterer Grund für die Einstellung der Einwanderung war die Revolução Farroupilha, [Anm. 13] die zwischen 1835 und 1845 in Südbrasilien stattfand.

Als Pedro II. 1840 zum Kaiser von Brasilien ernannt wurde, begann eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs. Er war jung und hatte innovative und gewinnbringende Ideen für Brasilien. In diesem Sinne glaubte er, dass die Einwanderung dem Land Vorteile bringen würde, und ab 1846 [Anm. 14] wurden verschiedene Gesetze und Verordnungen erlassen, um die Einwanderung in Brasilien wieder aufzunehmen, zu vereinfachen und zu verbessern. Damit begann die zweite Phase der deutschen Einwanderung. Die Einwanderer, die in dieser Zeit kamen, ließen sich in der Region nieder, in der sich heute die Stadt Petrópolis im Bundesstaat Rio de Janeiro befindet, und kamen auch weiterhin in die Bundesstaaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul. [Anm. 15]

In der zweiten Phase waren die Einwanderer, anders als in der ersten, nicht überwiegenden Landwirte, sondern Handwerker, die sich durch den Industrialisierungsprozess in Europa verdrängt fühlten. In Rio Grande do Sul konnten die ankommenden Einwanderer frei entscheiden, ob sie Landwirte, Handwerker oder Kaufleute sein wollten. In der zweiten Phase der Auswanderung entwickelten sich die Siedlungen weiter, weil es mehr berufliche Vielfalt gab. Es wurden mehr Schulen, Kirchen und Geschäfte eröffnet, da qualifizierte Menschen für die Arbeitsplätze ankamen. Außerdem beeinflussten die Einwanderer dieser Zeit mit ihrem liberalen Denken und mit ihren erfolgreichen Ideen die Politik des Reiches. [Anm. 16]

Anders als in der ersten Phase, in der die Einwanderer die Region vom Vale do Rio dos Sinos besiedelten, siedelten sie in der zweiten Phase hauptsächlich im Vale do Rio Jacuí, Caí und Taquari. Einige der Städte, die in dieser Phase entstanden sind, sind Santa Cruz do Sul, Feliz, Santo Ângelo, Venâncio Aires, Nova Petrópolis, São Lourenço und Rolante.

Die dritte Phase der deutschen Auswanderung begann 1890, nachdem Brasilien eine Republik geworden war. Zwischen 1890 und 1914 kamen rund 17.000 Deutsche an, gründeten Städte wie Ijuí und Santa Rosa, überquerten den Uruguay-Fluss und wanderten westlich von Santa Catarina und Paraná nach Nordargentinien und Paraguay aus.

Heute, zweihundert Jahre, nachdem die ersten Auswanderer nach Rio Grande do Sul gekommen sind, erkennt man das Erbe, das sie hinterlassen haben. Außer den Städten und Unternehmen, die von Auswanderern gegründet wurden, gibt es kulturelle Aspekte, die bis heute in den von ihnen besiedelten Regionen erhalten geblieben sind. Einwanderinnen und Einwanderer bewahrten beim Aufbau ihres Lebens in Brasilien Gewohnheiten und Bräuche, die sie aus ihrer Heimat mitbrachten, z. B. Versammlungen in Ballsälen, Feierlichkeiten wie Kerb und Oktoberfest sowie Weihnachts- und Osterfeiern. [Anm. 17] Diese gibt es bis heute.

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Verfasser:

Tafarel Schmitt

Bundeskanzler-Stipendiat 2023/2024 / Unterstützt von Alexander von Humboldt Stiftung

 

Erstellt am: 28.03.2024

Anmerkungen:

  1. Braun, 2017, S. 9. Zurück
  2. Trespach, 2013, S. 33. Zurück
  3. Hahn, 1950, S. 15. Zurück
  4. Cunha, 1995, S. 33. Zurück
  5. Cunha, 1995, S. 28/29. Zurück
  6. Both, 1994, S. 26. Zurück
  7. Georg Anton von Schäffer (vgl. Dreher, 2008, S. 6) wurde in Münnerstadt in Franken, dem heutigen Bundesland Bayern, geboren und war ein persönlicher Freund der Kaiserin Leopoldina. Er wurde von Kaiser Pedro I. ausgesandt, um preußische Soldaten und Bauern zu rekrutieren. Er überzeugte die Menschen mit Versprechungen, die später nicht eingehalten wurden, auszuwandern. Zurück
  8. Trespach, 2013, S. 34. Zurück
  9. Tubino, 2007, S. 58. Zurück
  10. Braun, 2017, S. 19. Zurück
  11. Faller, 1979. Zurück
  12. Tubino, 2007, S. 16. Zurück
  13. Die Revolução Farroupilha, auch bekannt als Revolta dos Farrapos oder Guerra dos Farrapos, war ein Volksaufstand in Rio Grande do Sul, der sich gegen die Zumutungen des portugiesischen Hofes unter der Führung des Regenten Feijó richtete. Hauptgrund für den Aufstand war die Unzufriedenheit der Viehzüchter von Rio Grande do Sul mit der Steuerpolitik der brasilianischen Regierung. Der Konflikt dauerte 10 Jahre (1835-1845) und endete mit mehr als 3.000 Toten. Er erlangte Berühmtheit aufgrund seiner Länge und weil er die größte Bedrohung für Brasiliens territoriale Integrität darstellte. Zurück
  14. Obwohl aus einigen Quellen (vgl. Rosa, 2005) hervorgeht, dass einige Familien bereits vor 1846 nach Brasilien ausgewandert sind, es ist bekannt, dass die Massenauswanderung der zweiten Phase 1846, nach dem Ende der Revolução Farroupilha, begann. Zurück
  15. Tubino, 2007, S. 17. Zurück
  16. Tubino, 2007, S. 18. Zurück
  17. Grützmann, Dreher & Feldens, 2008, S. 74. Zurück
 
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