Die Bedingungen der Reise – das ‚Redemptioner-System'

Stimuliert wurden viele Auswanderungen nicht nur durch Berichte ausgewanderter Verwandte und Freunde, auch so genannte „Neuländer“ trugen das ihre bei. Diese illegal arbeitenden Werber zogen durch die Dörfer und beredeten im Auftrag von Reedern in Rotterdam oder London Menschen zur Auswanderung.[Anm. 1] Sie schilderten das Leben in Amerika in den leuchtendsten Farben, was oft auf große Resonanz bei Menschen stieß, die in armseligen Verhältnissen lebten. Die Wegzüge fanden meist in Gruppen statt. Oft wanderten ganze Großfamilien aus. Die Reise war überaus beschwerlich und langwierig. Schon bei der Ankunft in Rotterdam, oft erst nach vier bis sechs Wochen, waren viele Auswanderer mittellos. Um die Überseereise zu finanzieren, verdingten sich die meisten Emigranten als so genannte ‚Redemptioner'.[Anm. 2] Dies bedeutete, dass die Passagiere sich nach der Ankunft in Amerika verpflichteten, mehrere Jahre ohne Bezahlung für einen Dienstherrn zu arbeiten. Im Gegenzug bezahlte dieser dem Kapitän das Geld für die Überfahrt.

Die sechs- bis achtwöchige Reise nach Amerika erfolgte oft unter katastrophalen Bedingungen. In Rotterdam und anderen Häfen wurden die Passagiere in das Zwischendeck von Segelschiffen eingezwercht, die für den Transport von Waren – nicht von Menschen – ausgelegt waren. Dies führte zu einer großen physischen und psychischen Belastung der Auswanderer. Mangel an Frischluft, unzureichende Hygiene und verdorbene Lebensmittel führten oft zu Krankheiten, die mitunter tödlich endeten. Ein anschauliches Bild der Zustände an Bord bot der Württemberger Gottlieb Mittelberger im Jahr 1750. Auf seinem Schiff starben 32 Kinder, deren Leichen ins Meer versenkt wurden, und er fuhr fort: „Während der Seefahrt aber entstehet in denen Schiffen ein Jammervolles Elend, Gestank, Dampf, Grauen, Erbrechen, mancherley See-Krankheiten, Fieber, Ruhr, Kopfweh, Hitzen, Verstopfungen des Leibes, Geschwulsten, Scharbock, Krebs, Mundfäule, und dergleichen, welches alles von alten und sehr scharf gesalzenen Speisen und Fleisch, auch von dem sehr schlimmen und wüsten Wasser herrühret, wodurch sehr viele elendiglich verderben und sterben. … Dieser Jammer steiget alsdann aufs höchste, wann man noch 2 bis 3 Tag und Nacht Sturm ausstehen muß …, dass man glaubt samt Schiff zu versinken … und die so eng zusammen gepackte Leute in den Bettstatten dadurch übereinander geworfen werden, Kranke wie die Gesunde; … manches seufzet und schreyet: Ach! wäre ich wieder zu Hause und läge in meinem Schweinestall“.[Anm. 3]

Nach der Ankunft im „gelobten Land“ wurden die meisten Einwanderer, wie erwähnt, vom Kapitän an Dienstherren übergeben. Familien wurden oft auseinander gerissen und fanden mitunter nie mehr zusammen. Diese Zustände herrschten bis in das frühe 19. Jahrhundert. Dieses System war grausam, aber es hatte auch seine positiven Seiten. Viele Einwanderer hätten sich ansonsten nie die Reise nach Amerika leisten können und wären in Europa im Elend verblieben. Das Abhängigkeitsverhältnis gab den Einwanderern zudem die Chance, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden, bevor sie im fremden Land auf sich selbst gestellt waren. Die verkauften Einwanderer wurden meist recht gut behandelt, schon allein aus dem Grund, dass ihre Arbeitgeber Furcht vor Flucht hatten. Das Gesetz gewährte den ‚Redemptioners' Rechte, und nach dem Ende ihrer Dienstzeit erhielten sie eine Abfindung. Seit 1764 leistete zudem die Deutsche Gesellschaft von Philadelphia deutschen Immigranten Landsleuten, die in Not geraten waren, materielle und juristische Hilfe.[Anm. 4]

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Verfasser: Helmut Schmahl

Redaktionelle Bearbeitung: Dominik Kasper

Anmerkungen:

  1. Zu den „Neuländern“ vgl. Wolfgang von Hippel: Auswanderung aus Südwestdeutschland. Studien zur württembergischen Auswanderung und Auswanderungspolitik im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1984, S. 67. Zurück
  2. Ausführlich zum Redemptioner-System: Bernard Bailyn: Voyagers to the West: A Passage in the Peopling of America on the Eve of the Revolution. New York 1986, S. 172-174. Zurück
  3. Zit. nach: Gerhard E. Solbach: Reise des schwäbischen Schulmeisters Gottlieb Mittelberger nach Amerika 1750-1754. Wyk auf Föhr 1992, S. 36- Zurück
  4. Vgl. Conzen, Germans, S. 409. Zurück
 
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