1709: Massenauswanderung nach New York

Während des Spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714) war die Bevölkerung der Pfalz wiederum stark belastet, dieses Mal durch Kontributionen. Vollends unerträglich wurde die Situation im strengen Winter von 1708/09, als zeitgenössischen Chroniken zufolge die Vögel im Flug erstarrten und zu Boden fielen und der Wein in den Fässern gefror. Aus einem Protokoll des Stadtrats von Gau-Odernheim an das Oberamt Alzey läßt sich deutlich ersehen, wie weit vielerorts die Untertanen an den Rand des Ruins getrieben worden waren.

Zahlreiche Faktoren wirkten hier zusammen. Bereits 1707 hatte Hagelschlag zu großen Ernteverlusten an Getreide und Wein geführt. Hierdurch war die fast ausschließlich von der Landwirtschaft lebende Bevölkerung stark getroffen. Bald hierauf folgte eine Viehseuche, die 200 Kühe und Rinder hinwegraffte. Zugleich mussten die Untertanen hohe Kriegskontributionen zahlen. Diese missliche Lage führte dem Bericht zufolge zu der „eußersten Kleinmuthigkeit bey dem ohnedem ruinirten Landmann“.[Anm. 1] Fast die Hälfte der Bürgerschaft sei bereit, nach Versteigerung ihres Besitzes „ihr liebes Vatterland wiewohl zu ihrem großen Leidwesen zu verlaßen, wegen der unerschwinglichen angesezten Gelder, und Mangel der ohnentbahrlichen Leibsnotturfft“. Es kam jedoch nur zur Auswanderung von drei Familien, der Rest fand aufgrund des allgemeinen Geldmangels keine Käufer für ihren Besitz.

Insgesamt machten sich nach der Erntekrise von 1708/09 rund 13.000 Menschen auf den Weg nach England.[Anm. 2] Ausgelöst wurde diese Auswanderungswelle durch eine Werbeschrift des Pfarrers Josua Harrsch aus Eschelbronn im Kraichgau. Harrsch hatte 1704 auf einer Englandreise erfahren, dass Königin Anna deutsche Siedler für ihre nordamerikanischen Kolonien suchte.[Anm. 3] Im Auftrag von englischen Großgrundbesitzern, die eine rasche Erschließung ihrer Ländereien in Nordamerika erhofften, verfasste Harrsch nach seiner Rückkehr unter dem Pseudonym Josua Kocherthal eine Flugschrift mit dem Titel „Ausführlich- und umständlicher Bericht von der berühmten Landschafft Carolina in dem Engelländischen America gelegen.“[Anm. 4] Darin schilderte er die Vorzüge der Neuen Welt in den höchsten Tönen. Die Flugschrift fand reißenden Absatz und erlebte vier Auflagen.

Im Frühjahr 1708 traf Harrsch mit einer Auswanderergruppe aus der Kurpfalz in London ein und bat um Ansiedlung im britischen Teil Nordamerikas. In einer Petition an Queen Anne hob er hervor, bei den Auswanderern handle es sich um arme bedrängte Pfälzer („poor distressed Palatines“) aus der Gegend von Landau, die vom Spanischen Erbfolgekrieg besonders betroffen waren, und begründete ihren Wegzug mit wiederholten Plünderungen durch französische Truppen und andauernder religiöser Bedrückung.[Anm. 5]

Harrschs Bitte stieß bei der englischen Regierung auf offene Ohren. Im Mai 1708 gewährte Queen Anne den Exilanten die Ansiedlung in der Kronkolonie New York. Dort, am oberen Hudson River, gründeten sie die Siedlung Neuburg (Newburgh). Nach dem katastrophalen Winter machten sich im Frühjahr 1709 mehrere tausende Südwestdeutsche zum Teil überstürzt über Holland nach England auf.[Anm. 6] Die meisten von ihnen stammten aus dem heutigen Rheinhessen sowie der Vorderpfalz, aber auch die Mittelgebirgsregionen des Pfälzer Waldes, des Hunsrücks, des Taunus und des Westerwaldes waren vertreten.[Anm. 7] Die Auswanderer hatten der vierten, von einem geschäftstüchtigen Verleger umgeschriebenen Auflage von Harrschs Schrift entnommen, dass alle Auswanderungswilligen freie Überfahrt und kostenloses Land erhalten sollten. In der Nähe von London wurde ein Flüchtlingslager errichtet. In der ersten Zeit erweckten die Fremden das Mitleid des Hofes und der Londoner Bevölkerung, bald zeichnete sich jedoch ab, dass man dem Ansturm nicht gewachsen war und die Flüchtlinge nicht dauerhaft versorgen konnte. Um das Lager zu räumen, wurden fast alle Katholiken wieder in ihre Heimat zurückgeschickt, viertausend weitere Kolonisten sandte man zur Stärkung des protestantischen Elements nach Irland. Viele junge Männer gingen in den britischen Militärdienst, während andere Menschen den katastrophalen hygienischen Bedingungen erlagen. Lediglich 3000 Personen wurden per Schiff nach Amerika verbracht. Ein gutes Viertel von ihnen, rund 800 Personen, überlebten die Reise nicht. Die restlichen von ihnen erhielten Land an beiden Ufern des Hudson River.

Nach der Ankunft der Kolonisten bestimmte der New Yorker Gouverneur Robert Hunter, dass sie für die Kosten ihrer Überfahrt aufkommen sollten. Er schickte sie in Pinienwälder, wo sie Teer und Masten für den Schiffsbau herstellten sollten.[Anm. 8] Das Unternehmen scheiterte kläglich, da die Deutschen keine Werkzeuge und sonstige Ausrüstung erhalten hatten. Hunter versah sie nicht mit den versprochenen Rationen und konfiszierte ihre Gewehre, so dass sie nicht jagen konnten. Viele Kinder der Kolonisten wurden ihren Eltern entrissen und bei Engländern in der Stadt New York verdingt. Erst zwei Jahre nach ihrer Ankunft konnte die erste Ernte eingefahren werden. In ihrer Verzweiflung revoltierten die Siedler, ihr Aufstand wurde jedoch rasch von britischen Truppen niedergeschlagen.

Daraufhin beschloss der Schwabe Johann Konrad Weiser, einer der Wortführer der Siedler, dessen Familie besonders unter Hunters Maßnahmen gelitten hatte, gemeinsam mit rund 100 weiteren Familien an den Schoharie zu ziehen, wohin sie von den dortigen Mohawk-Indianern eingeladen worden waren.[Anm. 9] Sie machten sich im Winter 1712 auf den Weg und errichten erschöpft und dem Hungertod nahe ihr Ziel. Gouverneur Hunter forderte sie zur Rückkehr an den Hudson auf, ließ sie dennoch anschließend unbehelligt, da er nicht über genügend Truppen verfügte, um Krieg gegen die Mohawk zu führen.

Die Siedlungen an den Flüssen Schoharie und Mohawk blühten schnell auf und wurden bald durch Zuzüge verstärkt. Englische und niederländische Großgrundbesitzer betrachteten die Entwicklung dieser selbständigen kleinbäuerlichen Siedlungen mit Missfallen. Sie wollten – ähnlich wie in Europa - das Land an sich ziehen und durch Pächter bewirtschaften lassen. Erfolgreich fochten sie die Besitztitel der Deutschen an. Weiser wurde von den deutschen Siedlern nach London entsandt, um sich für ihre Rechte einzusetzen, seine Mission war jedoch vergeblich. Auf dem Rückweg wurde er von Piraten gefangen genommen, und er kehrte erst nach Jahren zurück.

Gemeinsam mit 33 weiteren Familien zog Weiser den Schoharie flussaufwärts, bis er in den Bergen den Oberlauf des Susquehanna erreichte. Entlang dieses Flusses zogen sie bis zur Mündung des Swatara und dann entlang dieses Flusses bis nach Berks County in der Kolonie Pennsylvania. Dort fanden sie endlich den Frieden, nach dem sie so lange gesucht hatten.

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Verfasser: Helmut Schmahl

Redaktionelle Bearbeitung: Dominik Kasper

Anmerkungen:

  1. Gemeindearchiv Gau-Odernheim (aufbewahrt im Archiv der Verbandsgemeinde Alzey-Land), Abt. VI, Fasz. 1, Bericht vom 22.4.1709 (folgendes Zitat ebd.). Zurück
  2. Grundlegend zur Auswanderung von 1709: Philip Otterness: Becoming German. The 1709 Palatine Migration to New York. Ithaca und London 2004. Zurück
  3. Zu Harrsch vgl. Karl Scherer: Josua Harrsch alias Kocherthal – Der Führer in das „neue Kanaan“. In: Paul/Scherer, Pfälzer in Amerika, S. 152-156. Zurück
  4. Ein Faksimiledruck der 1709 in Frankfurt erschienenen vierten Auflage wurde 1983 in Neustadt/Weinstraße aufgelegt. Zurück
  5. Vgl. Scherer, Skizze, S. 22. Zurück
  6. Vgl. Otterness, Becoming German, S. 37-40. Zurück
  7. Vgl. die Karte in Philip Otterness: Becoming German, S. 44. Eine ausführliche genealogische Untersuchung der einzelnen Auswandererfamilien bietet Henry Z. Jones, Jr.: The Palatine Families of New York. 2 Bde. Universal City/California 1985. Zurück
  8. Vgl. Otterness, Becoming German, S. 83-92; 111-114. Zurück
  9. Vgl. Scherer, Skizze, S. 24-26. Zurück
 
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