Auswanderung nach Brasilien aus dem Kreis Simmern
Der Hunsrück umfasst ungefähr ein Gebiet, das von Rhein, Mosel, Saar und Nahe begrenzt wird. Im 19. Jahrhundert, genauer ab 1815, gehörte der größte Teil des Hunsrücks zu Preußen. Die vorliegende kurze Darstellung der Auswanderung nach Brasilien bezieht sich dabei in Anbetracht der vorliegenden Forschungsarbeiten auf den Kreis Simmern.
Der Kreis Simmern, Teil des preußischen Regierungsbezirkes Koblenz, umfasste die Bürgermeistereien Gemünden, Kirchberg, Kastellaun, Ohlweiler, Rheinböllen und Simmern und hatte in Mitte des 19. Jahrhunderts etwa 38000 Einwohner.[Anm. 1] Während die gesamtdeutsche Auswanderungsbewegung des 19. Jahrhunderts– auf die Vereinigten Staaten zielte, hatten die Auswanderer aus dem Kreis Simmern, wie auch aus großen Teilen des gesamten Hunsrück, vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts mehrheitlich das Ziel Brasilien. Im Folgenden sollen, soweit möglich, der Umfang, die Ursachen, die Sozialstruktur der Auswanderer und das Auftreten der Verwaltung gegenüber der Auswanderung dargestellt werden.
Umfang der Auswanderung
Der genaue Umfang der Auswanderung aus dem Kreis Simmern lässt sich nicht feststellen. In den vorliegenden Untersuchungen offenbaren sich immer wieder größere Schwankungen. Insgesamt muss angemerkt werden, dass einerseits die statistische Erfassung in Heimat- und Aufnahmeland starke Unterschiede aufweist, andererseits auch über den Umfang der illegalen Auswanderung keine verlässlichen Zahlen gegeben werden können.[Anm. 2]
Allgemein kann man die Auswanderung aus dem Kreis Simmern im 19. Jahrhundert wohl in drei verschiedene Wellen unterteilen. Geographisch konzentrierte sich die Auswanderung zunächst, zwischen 1823 und 1828, auf den Südwesten des Kreises. Die gleichzeitige Anwerbung von Soldaten durch den brasilianischen Staat spielte dabei wohl keine Rolle. Bis 1844 kamen nur vereinzelte Auswanderer hinzu. Eine zweite große Welle setzte in den Jahren 1845 und 1846 ein, als mehr als 1000 Personen den Kreis in Richtung Brasilien verließen. Dies steht wohl in direktem Zusammenhang mit der Gründung der Kolonie Petrópolis, wo zwei Koloniebezirke, nämlich „Simeria“ und „Castellanea“ die Herkunft der Auswanderer belegen. Im Anschluss, vor allem ab 1848, nahm die Bedeutung Brasiliens als Ziel rapide ab. Lediglich von 1857 bis 1862 war noch einmal ein signifikanter Anstieg an Auswanderern festzustellen. Ab 1863 kamen nur noch vereinzelte Brasilienauswanderer hinzu. [Anm. 3]Möglich ist, dass vor dem Hintergrund der Sklavenbefreiung in Brasilien und der gleichzeitigen Massenverelendung im Deutschen Reich ab 1888 noch einmal eine ansteigende Zahl von Auswanderern ihr Glück in Südamerika suchte. [Anm. 4]
Gründe der Auswanderung
Bei der Untersuchung der Ursachen der Auswanderung nach Brasilien dürfen nicht nur die Lebensverhältnisse im Kreis Simmern Beachtung finden. Ebenso muss auch auf die Konditionen im Zielland hingewiesen werden.
Eine darbende Ökonomie war wohl nicht der einzige Auswanderungsgrund. Zwar blieb der Raum Simmern industriell unterentwickelt, vermuten lässt sich aber eher ein Zusammenwirken von Agrarkrisen und vermehrter Auswanderung.[Anm. 5] Bezüglich der Landwirtschaft muss auf die Realerbteilung hingewiesen werden. Dabei wurde die Familienstelle im Erbfall gleichmäßig auf alle Erben verteilt, was, gerade vor dem Hintergrund des Bevölkerungswachstums, zu einer starken Verringerung des jeder Familie zu Verfügung stehenden Landes führte.[Anm. 6] Teilweise versuchten die Bauern, dem durch das zusätzliche Erlernen eines Handwerks auszuweichen, was jedoch zu einer Überfüllung dieser handwerklichen Berufszweige führte. Durch die fehlende industrielle Entwicklung des Kreises konnte diese Entwicklung nicht aufgefangen werden.[Anm. 7] Diese strukturell bedingte Armut – der vorindustrielle „Pauperismus“ Mitte des 19. Jahrhunderts - hatte,– und dies gilt wohl auch für den Kreis Simmern,– einen vermuteten Höhepunkt in den 1840er Jahren, als zudem Missernten die Situation verschärften.
Wohl nur geringe Auswirkungen auf die Entscheidung zur Auswanderung hatte dagegen die fortlaufende Einschränkung von sogenannten „Gemeindenutzbarkeiten“ durch die Behörden. Zwar wurde diese von Auswanderern selbst häufig als Ursache gesehen bzw. genannt, und in Briefen wurde häufig auch auf den Holzreichtum Brasiliens verwiesen, allerdings waren die Einschränkungen von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich intensiv.[Anm. 8]
Gleichzeitig bestand im neu gegründeten Kaiserreich Brasilien, gerade in Bezug auf den südlichen Teil des Landes, eine große Nachfrage nach geschulten Siedlern und Handwerkern aus Europa.[Anm. 9]
Durch Agenten wie den bekannten Major Georg Anton von Schäffer und dessen Unteragenten in den 1820er oder den Bacharacher Ignaz Diel, einen Werber des Handelshauses Delrue, das seinen Sitz in Dünkirchen hatte, in den 1840er Jahren, versuchte die brasilianische Regierung, Kolonisten für diese Region anzuwerben. Dabei versprach man anfangs erhebliche steuerliche Vergünstigungen, wie zum Beispiel die Befreiung von Abgaben in den ersten zehn Jahren, und eine großzügige Zuteilung des vorhandenen Landes. Später, so in den 1840er Jahren, wurden die Kosten der Überfahrt von der brasilianischen Regierung vorgestreckt. Dieser Kredit sollte dann im Land abgearbeitet werden.[Anm. 10] Einen gewissen Einfluss hatten auch die Briefe und Berichte von bereits Ausgewanderten, wie eine Aussage des Bürgermeisters von Zeltingen (Kreis Bernkastel) von 1864 zeigt: „Auch mögen die in neuerer Zeit eingetroffenen Briefe von Auswanderern, welche meist einladend wirken, sowie zurückgekehrte Personen aus der Umgebung von nicht geringem Einfluss sein.“[Anm. 11] Vor allem in den Anfangsjahren der Auswanderung bestand, auch über die einzelne Dorfgemeinschaft hinaus, ein großes Interesse an diesen Briefen, so dass sie wahrscheinlich auch von den Agenten zu Werbezwecken vervielfältigt und verbreitet wurden.[Anm. 12]
Die Auswanderer
Obwohl zwei Drittel der Bevölkerung im Kreis Simmern hauptberuflich in der Landwirtschaft tätig waren, stellten Bauern im Durchschnitt nur ein Drittel der Simmerner Brasilienauswanderer, eine Quote, die sich nur in Krisenjahren erhöhte. Überrepräsentiert waren hingegen Gewerbetreibende, wobei überdurchschnittlich viele von ihnen im Bau- und Textilgewerbe beschäftigt waren. Dies weist auf einen Überschuss im Herkunftsland – die handwerkliche Überfüllungskrise wurde ja bereits angesprochen – und auf einen Mangel im Zielland hin. Tagelöhnern, Knechten und Mägden sowie Berufslosen fehlten meist die finanziellen Mittel zur Auswanderung, so dass für sie, wie für die meisten Geringvermögenden, meist nur eine subventionierte Emigration in Frage kam.[Anm. 13]
Auftreten des Staates, der Verwaltung und der Gemeinden
Die Haltung des Staates, im Falle Simmerns des Preußischen, ist wohl ambivalent zu nennen. Auswanderung war zwar in Preußen seit 1818 nicht mehr verboten, grundsätzlich war der Auswanderer aber zur Erlangung eines „Emigrations-Consenses“ zum Nachweis eines gewissen Reisegeldes verpflichtet. Ebenso musste eine amtliche Erklärung vorliegen, dass der Auswanderer nicht zurückkommen werde. Weitere Bedingungen waren das vorherige Ableisten des Kriegsdienstes, die Abzahlung von Schulden sowie eine „reine Weste“, soll heißen ein lupenreines polizeiliches Führungszeugnis. Auch durfte man keine Personen, zu deren Unterhalt man verpflichtet war, zurücklassen, wie die Ehefrau, Kinder, aber ebenfalls kranke Eltern. Weiterhin mussten die Mindestreisegelder anderer Staaten, die auf dem Weg zum Zielland durchquert werden würden, wie zum Beispiel der Niederlande, nachgewiesen werden.[Anm. 14] Dabei lassen sich in der Verwaltungspraxis gewisse Unterschiede feststellen. Während kommunale Stellen wohl bevorzugt positive Bescheide ausstellten, um sich unerwünschter, meist ärmerer Personen zu entledigen, oder um ein Überangebot in bestimmten Berufsgruppen abbauen zu können, bestanden Landräte und auch die Bezirksregierungen meistens auf ein Mindestmaß an Reisemitteln. Auf Gemeindeebene kam es jedoch auch vor, dass Auswanderung finanziell gefördert wurde, um höheren Kosten durch die Armenfürsorge auszuweichen. Dies stieß jedoch auch teilweise wieder auf Widerstand der Bezirksregierung, vor allem in Bezug auf die Förderung von größeren Gruppen.[Anm. 15]
Frühestens seit 1825 wurden die Auswanderer zudem belehrt, dass mit ihrer Auswanderung die Entlassung aus dem Untertanenverband einherginge. Hintergrund war wohl die Angst des Staates vor verarmten Rückwanderern, die den Staat finanziell belasten würden. Allerdings muss erwähnt werden, dass diese Belehrung wohl auch einen gegenteiligen Effekt hatte, da die Bevölkerung vermutete, dass die Regierung verhindern wolle, dass sich die Vorzüge Brasiliens weiter verbreiteten. Tatsächlich förderte die Bezirksregierung die Verbreitung von diskreditierenden Briefen und von Unglücksfällen, wobei der tatsächliche Einfluss auf die Auswanderungswilligen wohl nur gering war.[Anm. 16]
Verwendete Literatur
- Beres, Eric: Auswanderung aus dem Hunsrück 1815-1871. Strukturen, Ursachen und Folgen am Beispiel der ehemaligen Bürgermeisterei Kastellaun. Kastellaun 2001 (Kastellaun in der Geschichte; 7).
- Dahme-Zachos, Andrea: Eine kurze Geschichte der deutschen Auswanderung nach Brasilien. In: Tópicos 2 (2003) S. 26-27.
- Diener, Walter: Die Auswanderung aus dem Kreise Simmern (Hunsrück) im 19. Jahrhundert. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 8 (1938). S. 91-148.
- Ders.: Auswanderung und Auswanderer aus dem Kreis Simmern im 19. Jahrhundert. In: Hunsrücker Heimatblätter 15, 34 (1975). S. 126-136.
- Effgen, Björn: „Ein Paradies, wo Milch und Honig fließt“. Auswanderung nach Brasilien aus dem Kreis Simmern 1823-1871. Staatsexamensarbeit Mainz 2010.
- Keller, Hansheinz: Hunsrücker Auswanderung im 19. Jahrhundert nach Brasilien. In: Der Hunsrück 1 (1965). S. 187-213.
- Klug, Joao: Wir Deutschbrasilianer. Die deutsche Einwanderung und die Herausbildung einer deutschbrasilianischen Identität im Süden Brasiliens. In: Tópicos 1 (2004) S. 26-27.
- Marschalck, Peter: Brasilienauswanderer aus dem Saar-Hunsrück-Raum in Bremen 1826-1828. In: Zeitschrift für die Saargegend 1986/1987 (34/35). S. 164-185.
- Strupp, Christoph: Von der alten in die neue Heimat. Deutsche Auswanderer auf dem Weg nach Lateinamerika. In: Matices. Zeitschrift zu Lateinamerika, Spanien und Portugal 15, 4. Jg. (Herbst 1997).
Verfasser: Christoph Schmieder
Der Verfasser dankt Herrn PD Dr. Michael Müller für seine Unterstützung und seine konstruktiven Anmerkungen
Anmerkungen:
- Vgl. Beres, S. 159. Zurück
- Vgl. Beres, S. 32. Zurück
- Vgl. Effgen, S. 105; Diener, S. 123. Diener nennt wesentlich niedrigere Zahlen. Zurück
- Vgl. Dahme-Zachos, S. 26. Zurück
- Vgl. Diener 1938, S. 92. Dies hängt wohl auch mit der unzureichenden Verkehrsanbindung des Kreises zusammen. So wurde Simmern erst 1889 ans Bahnnetz angeschlossen. Zurück
- Vgl. Keller. S. 189f.; Marschalck, S. 165f. Zurück
- Vgl. Beres, S. 97. Zurück
- Vgl. Effgen, S. 29-32; Keller, S. 190. Zurück
- Vgl. Klug, S. 26. In den 1830er Jahren setzte die landwirtschaftlichen, auf Sklaverei gestützten Eliten allerdings ein Investitions- und Zahlungsverbot durch. Dies könnte auch die in dieser Zeit geringere Auswanderung aus dem Kreis Simmern nach Brasilien erklären. Zurück
- Vgl. Effgen, S. 33; S. 54. Zurück
- Keller, S. 198. Zurück
- Vgl. Effgen, S. 40-45. Zurück
- Vgl. Effgen, S. 70f.; Beres, S. 37. Zurück
- Vgl. Diener 1975, S. 130f; Strupp. Auswanderer aus dem Süden und Westen Deutschlands wählten aufgrund der leichteren Anreise über den Rhein auch häufig Le Havre, Rotterdam oder Antwerpen als Ausschiffungshafen. Zurück
- Vgl. Diener 1975, S. 129-132; Effgen, S. 85-88. Zurück
- Vgl. Effgen, S. 91-93. Zurück