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Die Auswanderung aus Speyer

Speyer als Zentrum des salischen Kernlandes und Königsgrablege vieler römisch-deutscher Kaiser hat im Mittelalter kaum größere Emigrationsbewegungen in der Bevölkerung erlebt.[Anm. 1] Speyer war bis in die Moderne geprägt von dem Dualismus einer Bistums- und Reichsstadt und behielt bis in die Frühe Neuzeit seine wichtige Stellung im Heiligen Römischen Reich. Die zeitweiligen Besetzungen von Schweden und Kaiserlichen während dem Dreißigjährigen Krieg trafen die Stadt hart. Aber erst die völlige Zerstörung der Stadt und des Doms während des Pfälzischen Erbfolgekriegs unter Melac sollte die Bevölkerungsstruktur verändern. Neben den vielen Toten, die Speyer zu beklagen hatte, flüchteten viele Bürger mit dem Speyerer Stadtrat nach Frankfurt. Die Stadt war quasi nicht mehr bewohnt. Während diesen Jahren des Exils nahmen die protestantischen Speyerer Bürger die Frankfurter Katharinenkirche als Vorbild für ihre ab 1701 errichtete Dreifaltigkeitskirche.[Anm. 2] Das Reichskammergericht wanderte von Speyer – wo es seit 1527 beheimatet gewesen war – weiter nach Wetzlar. Mit ihm verließen viele Juristen und ihre Familien die Stadt, die besondere Bedeutung für das Reich ging damit endgültig verloren.

Das ganze 18. Jahrhundert war Speyer bemüht, sich von den Zerstörungen zu erholen. Es konnte aber seinen wichtigen Rang in politischer und wirtschaftlicher Sicht nicht mehr zurückgewinnen. Speyer war nun eine kleinere Mittelstadt mit knapp 2.000 Einwohnern um 1700, die dem neuen ökonomischen und sozialen Zentrum Kur-Mannheim nicht mehr gewachsen war. Es kam zu einer Reihe von Neuansiedlungen in Speyer, so dass die Einwohnerzahl bis zum Ende des Jahrhunderts bis auf ca. 8.000 ansteigen konnte.[Anm. 3]

Die Wirren um die Erbfolge in Lothringen 1733–1738, der Österreichische Erbfolgekrieg 1741–1748 und ein schwieriger Regen- und Überschwemmungswinter 1769/70 trafen die Bevölkerung hart und veranlassten Einzelne zur Auswanderung. Während den französisch-österreichischen Kämpfen 1792/93 entlang des Rheins mussten alle Kleriker Speyer verlassen, da nun die Französische Revolution nach Speyer kam. Das linksrheinische Speyer wurde vom General Custine erobert und war ab 1797 Teil des Departements Mont Tonnere.[Anm. 4] Währenddessen kam es auch in Speyer zur Auswanderung vieler Politiker und Würdenträger. Parallel dazu setzte aber auch eine Auswanderung breiterer Bevölkerungsmassen ein. Viele Bauernfamilien wanderten um 1809 nach Russland aus. Am Schwarzen Meer in Südrussland entstand 1809/10 eine Kolonie „Speyer“, die von vielen Pfälzern begründet wurde.[Anm. 5]

Mit dem Ende der französischen Besatzung 1814 wurden Speyer und die Pfalz auf dem Wiener Kongress bayerisch. Speyer wurde von München zur Kreishauptstadt des Bayerischen Rheinkreises ernannt. Zwischen 1817 und 1849 verdoppelte sich die Bevölkerung auf 12.000 Einwohner und Speyer entwickelte sich von einer kleinen Landstadt zum Verwaltungszentrum in der Pfalz.[Anm. 6] Die Auswanderung aus Speyer war im 19. Jahrhundert relativ gering. Die Stadtbevölkerung war weniger vom allgemeinen Bevölkerungsdruck und den Wirtschaftskrisen auf dem protoindustriellen Arbeitsmarkt betroffen. Das städtische Wirtschaftsleben war zwar noch stark von der Landwirtschaft geprägt, jedoch arbeiteten viele Speyerer in der Weiterverarbeitung bzw. im Weiterverkauf von Tabak, Wein, Hanf und Hopfen aus der Region. Zwischen 1828 und 1836 wanderten 60 Speyerer Bürger aus, zwischen 1842 und 1848 mindestens 92, hauptsächlich in die USA.[Anm. 7] Ähnlich zurückhaltend mit der Migration verhält es sich auch während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1891 und 1894 gab es nur 104 Auswanderer aus Speyer, zwischen 1895 bis 1914 gar nur noch 92. Die Bevölkerung der Stadt hingegen wuchs von 13.300 Einwohnern im Jahr 1871 auf über 23.000 um 1910.[Anm. 8]

In Speyer geboren wurde der amerikanische Eisenbahn-Tycoon Heinrich Hilgard-Villard (1835-1900), der das bekannteste Beispiel eines Speyerer Auswanderers in den USA wurde. Nach einem Streit mit seinem Vater emigrierte er 1853 nach New York und änderte seinen Namen in Henry Villard. Er verbesserte mit großem Eifer seine Englischkenntnisse und wandte sich bald dem Journalismus zu. 1856 übernahm er eine deutsche Zeitung in Chicago und erlebte den Amerikanischen Bürgerkrieg als Kriegsberichterstatter. Villard wurde zum Präsident mehrerer Bahngesellschaften ernannt und war maßgeblich an der Fertigstellung der Northern Pacific Railroad 1883/84 beteiligt. In Speyer unterstützte Villard den Bau der Gedächtniskirche, eines Gymnasiums und des Diakonissenkrankenhauses. 1895 wurde ihm deshalb das Ehrenbürgerrecht von Speyer verliehen, auf dem Gelände der Diakonissenanstalt befindet sich heute eine Büste Villards.[Anm. 9]

Der Zionismus als Grund für die Emigration aus Deutschland war für die große und alte Speyerer jüdische Gemeinde kaum ein Grund die Heimat zu verlassen: nur vier von 520 Mitgliedern verließen Speyer Richtung Palästina.[Anm. 10] Während der NS-Diktatur emigrierten viele Juden aus Speyer: 1939 lebten nur noch 72 Gemeindemitglieder in der Domstadt. Am 22. Oktober 1940 wurden dann die letzten 51 Speyerer Juden nach Gurs deportiert. Der Gau Westmark galt damit nach Gauleiter Bürckel als erste „judenfreie“ Region.[Anm. 11]

Nach dem 2. Weltkrieg kamen viele Vertriebene aus Mitteldeutschland nach Speyer. Gemessen an der Bevölkerung wurden mehr Flüchtlinge eingegliedert als im Landesdurchschnitt. Dieser blieb aber noch deutlich unter dem Bundesdurchschnitt. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten wuchs die Bevölkerung rasch, seit Mitte der 1970er war sie wieder rückläufig.[Anm. 12]

In Speyer ist der Sitz der Pfälzischen Landesbibliothek, die ein Spezialsammelgebiet „Pennsylvaniadeutsch“ für die regionale Dialektforschung besitzt. Das Landesarchiv Speyer – im gleichen Gebäudekomplex untergebracht – besitzt viele Akten zur Auswanderung aus den verschiedenen pfälzischen Bezirksämtern seit dem 18. Jahrhundert. Besonders ergiebig ist nach Andrea Kraft die Forschung nach dem Heimatrecht, zu dem es seit dem 19. Jahrhundert viele Verwaltungsakten gibt.[Anm. 13]

Das Stadtarchiv Speyer hat im Bestand 3 mit einem alphabetischen Bürger- und Familienregister eine gute Grundlage für die lokale Familienforschung. Der Bestand 6 mit Verwaltungsprovinienz seit den 1870ern Jahren enthält unter anderem in B6.XII.A.5 Statistiken und Namenlisten über die Ein- und Auswanderung aus Speyer.[Anm. 14]

Nachweise

Verfasser: Yves V. Grossmann

 

Verwendete Literatur:

 

  • Americh, Hans: Kleine Geschichte der Stadt Speyer, Leinfelden-Echterdingen 2007.
  • Fenske, Hans: Speyer im 19. Jahrhundert, In: Geschichte der Stadt Speyer, Band 2, hrsg. von der Stadt Speyer, redak. Wolfgang Eger, Speyer 1983, 2. Auflage , S. 115-290.
  • Geschichte der Stadt Speyer, hrsg. von der Stadt Speyer, redak. Wolfgang Eger, Stuttgart 1983, 2. Auflage, 2 Bände.
  • Hacker, Werner: Auswanderungen aus dem früheren Hochstift Speyer nach Südosteuropa und Übersee im 18. Jahrhundert, Kaiserslautern 1969 (=Schriften zur Wanderungsgeschichte der Pfälzer 28) [v.a. Auswanderungslisten aus dem Hochstift Speyer].
  • Hartwich, Wolfgang: Bevölkerungsstruktur und Wiederbesiedlung Speyers nach der Zerstörung von 1689, Heidelberg 1965.
  • Hartwich, Wolfgang: Speyer vom 30jährigen Krieg bis zum Ende der Napoleonischen Zeit, In: Geschichte der Stadt Speyer, Band 2, hrsg. von der Stadt Speyer, redak. Wolfgang Eger, Speyer 1983, 2. Auflage , S. 1-114.
  • Hopstock, Kartin/Werner, Sigrid (Bearb.): Quellen zur Geschichte Speyer – Bücher-Urkunden-Bilder, Eine Auswahl aus den Beständen von Stadtarchiv und Stadtbücherei, Speyer 1990.
  • Keller, Konrad: Die Deutschen Kolonien in Südrussland, Band 2: Die Beresaner Kolonien, Originalauflage 1915, Neuauflage 2000.
  • Kißener, Michael: Kleine Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Leinfelden-Echterdingen 2006.
  • Kraft, Andrea: Genealogische Quellen zur Auswanderung im Landesarchiv Speyer, In: Pfälzisch-Rheinische Familienkunde 57/58 (2008/09), S. 532-536.
  • Kukatzki, Bernhard: Mit Zwieback, Speck und Graupen nach Brasilien – Ein Schiffs-Vertrag von 1858 für Kolonisten aus Speyer, In: Pfälzisch-rheinische Familienkunde 16/58 (2009), S. 591-592.
  • Ohler, Norbert: Speyer in der Nachkriegszeit, In: Geschichte der Stadt Speyer, Band 3, hrsg. von der Stadt Speyer, redak. Wolfgang Eger, Speyer 1989, S. 1-166.
  • Palatia Historica – Festschrift für Ludwig Anton Doll zum 75. Geburtstag, hrsg. von Primin Spieß, Mainz 1994.
  • Portmann, Rolf: Basler Neubürger von Speyer 1358 - 1527 – Eine Miszelle zur mittelalterlichen Personenkunde, In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 82 (1984), S. 111-116.
  • Schleicher-Landgraf, Elisabeth: Unsere jüdischen Mitbürger in Speyer, In: Geschichte der Juden in Speyer, hrsg. von der Bezirksgruppe Speyer des Historischen Vereins der Pfalz, Speyer 1990 (= Beiträge zur Speyerer Stadtgeschichte 6), 2. Auflage, S. 120-131.
  • Schnabel, Berthold: Die Auswanderung aus dem bischöflich-speyerischen Amt Deidesheim in die französische Kolonie Guayana (Cayenne) in den Jahren 1763/1764, In: Deidesheimer Heimatblätter 8 (1992).
  • Seebach, Helmut: Peter I. holt Einwanderer ins Land – Mundart-Vergleiche zeigen, daß die Siedler um St. Petersburg häufig aus der Pfalz stammen, In: Die Rheinpfalz – Speyerer Rundschau 53 (1997), Nr. 85 vom 12.4.1997.
  • Vollmary, Maria: Von Blankenborn nach Speyer bei Odessa, In: Blankenborn, Mitteilungsblatt des Historischen Vereins der Pfalz 12 (1995), S. 55-57.
  • Wex, Reinhold: Stilverspätete Kleinbürger oder Freiheit und Zitat? Die Dreifaltigkeitskirche und der Wiederaufbau der Stadt Speyer im 18. Jahrhundert, In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 22 (1989), S. 113-120.

 

Informationen wurden auch von dem Deutsch-Pennsylvanischen Arbeitskreis e. V. (DPAK) zusammengetragen und zur Verfügung gestellt.

 

Erstellt: 26.09.2011

Anmerkungen:

  1. Ausnahme bilden hier nur 24 Speyerer Bürger die nachweislich eine neue Heimat in Basel fanden, Portmann, Basler Neubürger. Zurück
  2. Wex, Wiederaufbau und Hartwig, Bevölkerungstruktur, S. 105f und 174ff. Zurück
  3. Die Zuwanderung nach Speyer zwischen 1699 und 1759 visualisiert Hartwig, Bevölkerungstruktur, S. 186f recht deutlich. Zurück
  4. Hartwig, 30jähriger Krieg, S. 81. Zurück
  5. Siehe hierzu Seebach, Pfefferland und Keller, Kolonien. Zurück
  6. Fenske, Speyer, S. 128. Zurück
  7. Ders., S. 130f. Zurück
  8. Ders., S. 220f. Zurück
  9. Literatur zu Villard. Zurück
  10. Schleicher-Landgraf, Geschichte, S. 120ff. Zurück
  11. Schleicher-Landgraf, Geschichte, S. 127f. Zurück
  12. Ohler, Nachkriegszeit, S. 10f. Zurück
  13. Kraft, Quellen, S. 534ff. Zurück
  14. Ähnlich interessant könnten sein: II.C.2 „Erwerb und Verlust des Heimat- und Bürgerrechts“, VIII.D.1.-3. „Aufenthalt und Fremdenpolizei“ sowie eben XII.A.2.-6. „Statistik über die Bewegung u. Gliederung der Bevölkerung“. Zurück
 
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