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Die Auswanderung aus Alzey

Alzey, eine der Nibelungenstädte im Südosten des heutigen Rheinland-Pfalz, befindet sich zwischen dem Rheinhessischen Hügelland und dem Pfälzischen Bergland. Die einst kurpfälzische und später (rhein-)hessische Stadt vereint wie kein zweiter Ort die Phänomene der rheinhessischen und der pfälzischen Auswanderung in sich. Die Auswanderung aus Alzey ist typisch für die gesamte Emigration in Rheinland-Pfalz.[Anm. 1]

In dem Verlauf der Einwohnerzahl von Alzey zeigen sich die vielen politischen, wirtschaftlichen, religiösen und menschlichen Entwicklungen seit dem Beginn der Frühen Neuzeit im 16. Jahrhundert. War die Einwohnerzahl beinahe bis in die Moderne stetig steigend, bildet der Dreißigjährige Krieg einen Wende- und zugleich Tiefpunkt in dieser Entwicklung. Der Teutsche Krieg kam mit der Belagerung von Alzey 1620 durch die Kaiserlichen unter Spinola. Die Bevölkerung ging von 2500 Einwohnern um 1618 auf nur knapp 800 Seelen nach 1648 zurück. Das Vorkriegsniveau der Bevölkerung sollte trotz einer intensiven Peuplierungspolitik der Kurfürsten erst wieder im 18. Jahrhundert erreicht werden.[Anm. 2]

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts setzte in Alzey die Auswanderung in die verschiedensten Richtungen ein. 1724 kam es in Alzey zu den ersten gezielten Anwerbungsversuchen für die Auswanderung. Sieben Familien folgten dem kaiserlichen Ruf nach Südungarn. Ihr Hauptgrund für die Neuansiedlung in Südosteuropa war die schlechte Erntesituation in der Rheinebene. So siedelten um 1784 viele Familien aus Alzey erfolgreich bei Torscha (Torza) in der Batschka, um vor der Armut und den sich wiederholenden Ernteausfällen zu flüchten.[Anm. 3] Exotischere Auswanderungsziele lassen sich mit Rotterdam 1747 und Lanchester (UK) 1762 nachweisen, rein quantitativ war aber – wie in für Rheinland-Pfalz typisch – Nordamerika das Hauptauswanderungsland im 18. und 19. Jahrhundert, speziell der Bundesstaat Pennsylvania. Zwischen 1770 und 1800 wurden auch Galizien und die ungarische Batschka als Ziel der Auswanderung beliebt.[Anm. 4]

Nicht nur die wirtschaftlichen Nöte bewegten viele Rheinland-Pfälzer zur Emigration, auch der Glaube entwickelte sich zu einem Grund für die Auswanderung. So verließen die meisten Bewohner Alzeys nach Brandenburg-Preußen, wegen der dort zugesicherten Freiheit ihrer Religion.[Anm. 5]Die Stadt Alzey wurde 1670 von William Penn besucht, als er in Deutschland für sein „holy experiment“ – der Besiedlung Pennsylvaniens und Religionsfreiheit für alle Auswanderer – warb. Sein Anliegen stieß auf viel Interesse.

Ab 1825 orientierte sich die Auswanderung aus Alzey auch in Richtung Brasilien. São Leopoldo war, wie für viele damalige Rheinland-Pfälzer, zur neuen Heimat geworden. Die Auswanderung entwickelte sich das ganze lange 19. Jahrhundert entlang zu einem Ventil gegen den Bevölkerungsüberdruck, um nach neuem Land und Arbeit zu suchen.[Anm. 6]Aber aus reinen wirtschaftlichen Gegebenheiten fand wohl keine Auswanderung aus Alzey im 19. Jahrhundert statt.[Anm. 7]

Eine bekannte Auswandererpersönlichkeit aus Alzey in der Neuen Welt war August Belmont (1813-1890), der als Banker und Finanzexperte das Bankhaus Rothschild seit 1837 erfolgreich in New York vertrat.[Anm. 8] Eine andere bewegte Biographie aus Alzey hat Emil Praetorius (1827-1905), der im Zuge der 1848er Revolution nach St. Louis auswanderte und sich dort um den Journalismus sehr verdient gemacht hatte.[Anm. 9]

An die jüdische Gemeinde in Alzey kann sich diesem Gesamtbild der Auswanderung anschließen. Waren 1391 alle Juden aus Alzey vertrieben worden, kam es erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wieder zu einer Neugründung einer jüdischen Gemeinde. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg lassen sich jüdische Bürger in Alzey urkundlich belegen. Mit dem Jahr 1684 beginnen auch wieder die Eintragungen in das örtliche Memorbuch.[Anm. 10] Blieb es während dem 18. Jahrhundert bei einer konstanten Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde, lebten 1789 21 jüdische Haushalte in Alzey. So setzte ebenfalls im 19. Jahrhundert die Auswanderung nach Nordamerika ein.[Anm. 11] Der berühmteste jüdische Auswanderer war Samuel Adler, der 1857 als Hauptrabbiner in die deutschsprachige Gemeinde Temple Emanu-El nach New York ging. Während der NS-Diktatur wanderten 42 Mitglieder der jüdischen Gemeinde nach Amerika aus, 3 nach Palästina, 2 nach Afrika und wohl 10 weitere in andere europäische Staaten. Vermutlich kam es nach 1933 auch zu einer vermehrten Binnenwanderung innerhalb Deutschlands. Ob alle der ca. 240 Gemeindemitglieder den 2. Weltkrieg und die NS-Diktatur überlebt haben, ist so ungewiss wie unwahrscheinlich.[Anm. 12]

Auf der anderen Seite ist Alzey auch immer wieder ein Ort für die Zuwanderung gewesen. Die ganze Frühe Neuzeit über lassen sich neue zugezogene Bürger in Alzey nachweisen.[Anm. 13] Und auch während der Deutsch-Deutschen Teilung und dem Wirtschaftswunder in der BRD kam beispielsweise die textilverarbeitende Firma K.E. Aktmann&Co KG, 1951 aus dem Erzgebirge nach Alzey, um bis einschließlich 1973 junge „Gastarbeiter“  aus der Türkei anzuwerben. Von 220 Beschäftigen waren 1973 knapp 30% „Gastarbeiter“ und viele sind mit ihren Familien bis heute in Alzey geblieben.[Anm. 14]

Nachweise

Bearbeitung: Yves V. Grossmann und Dominik Kasper

 

Verwendete Literatur:

  • Bauhsmann, Justus: Briefe eines Auswanderers aus Nord-Amerika 1831, In: Heimatbuch des Landskreises Alzey-Worms 32 (1997), S. 230-234.
  • Bentz, Hans: Die Gliederung und Entwicklung der Berufsbevölkerung in Rheinhessen, Gießen 1930 (=Arbeiten der Anstalt für Hessische Landesforschung an der Universität Gießen, Geographische Reihe 9).
  • Berlet, Eduard: Ein Alzeyer Einwohnerverzeichnis aus dem Jahr 1803, In: Alzeyer Geschichtsblätter 8 (1971), S. 35-46.
  • Berlet, Eduard: Alzey im 19. Jahrhundert – Politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche Entwicklungen, In: 1750 Jahre Alzey, hrsg. von Friedrich Karl Becker, Alzey 1973 (=Alzeyer Geschichtsblätter Sonderheft 6), S. 285-303.
  • Böcher, Otto: zur Geschichte der Alzey Juden, In: 1750 Jahre Alzey, hrsg. von Friedrich Karl Becker, Alzey 1973 (=Alzeyer Geschichtsblätter Sonderheft 6), S. 196-206.
  • Heller-Karneth, Eva: Drei Konfessionen in einer Stadt – Zur Bedeutung des konfessionellen Faktors in Alzey des Ançien Régime, Würzburg 1996 (= Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 60).
  • Kißener, Michael: Kleine Geschichte des Landes Rheinland-Pfalz, Leinfelden-Echterdingen 2006.

    Pabst, Friedrich: Auswanderungen aus dem Kreise Alzey in das Land Friedrichs des Großen, In: Heimatbuch des Landskreises Alzey-Worms 2 (1962), S. 50-54.

  • Pabst, Friedrich: Auswanderungen aus dem Kreise Alzey in das Ungarnland, In: Heimatbuch des Landskreises Alzey-Worms 3 (1963), S. 61-65.
  • Scherer, Karl: Auswanderer aus Alzey im 18. und 19. Jahrhundert – Ein Beitrag zur Wanderungsgeschichte der "Pfälzer", In: 700 Jahre Stadt Alzey, hrsg. von Friedrich Karl Becker, Alzey 1977, S. 368-379.
  • Schmahl, Helmuth: Verpflanzt, aber nicht entwurzelt: Die Auswanderung aus Hessen-Darmstadt (Provinz Rheinhessen) nach Wisconsin im 19. Jahrhundert, Frankfurt 2000 (=Mainzer Studien zur Neueren Geschichte 1), zugl. Mainz Diss. 1999.
  • Schmitt, Sigrid: Territorialstaat und Gemeinde im kurpfälzischen Oberamt Alzey – 14. bis Anfang 17. Jahrhundert, Mainz 1991, zugl. Diss. Mainz 1991.
  • Untertanenverzeichnisse des Kurpfälzischen Oberamtes Alzey 1494 - 1576 - 1698, bearb. von ua. Rolf Kilian, Ludwigshafen a.Rh 1995, 3. Auflage (= 70 Jahre Pfälzische Familienforschung 1).
  • Willeke, Rolf-Günter: "Gastarbeiter" in Alzey – Neuzeitliche Migration am Beispiel türkischer Arbeitskräfte in einem ehemaligen Alzeyer Textilbetrieb, In: Heimatbuch des Landskreises Alzey-Worms 40 (2005), S. 60-62.

Weitere wurden Informationen von dem Deutsch-Pennsylvanischen Arbeitskreis e. V. (DPAK) zusammengetragen und zur Verfügung gestellt.

 

Erstellt: 23.06.2011

Anmerkungen:

  1. Scherer, Auswanderung Alzey, S. 368. Zurück
  2. Überlieferte Einwohnerzahlen von Alzey sind 1545: 2153 Einwohner, 1585: 2536, 1618:2500, 1632:1000, 1635:800, 1785:2556, 1798:3051, 1810:3100, 1815:3193, 1830:4209, 1843:5057, 1867:5358, 1905:6893, 1917:7230, 1925:9148 und 1934:9711, nach Berlet, Alzey im 19. Jahrhundert, S. 298f; siehe besonders Heller-Karneth, Konfessionen, S. 53ff und Schmahl, Auswanderung, S. 90ff sowie Untertanverzeichnis des Oberamts Alzey und Berlet, Einwohnerverzeichnis. Zurück
  3. Pabst, Auswanderungen in das Ungarnland, S. 61f und Scherer, Auswanderung Alzey, S. 369. Zurück
  4. Scherer, Auswanderung Alzey, S. 369f. Zurück
  5. Pabst, Auswanderungen in das Land Friedrichs, S. 51f. Zurück
  6. Schmahl, Auswanderung, S. 39ff und Scherer, Auswanderung Alzey, S. 370ff. Zurück
  7. Berlet, Alzey im 19. Jahrhundert, S. 299 contra Scherer, Auswanderung Alzey, S. 370ff. Zurück
  8. Irving Katz: August Belmont, a Political Biography. Columbia University Press, New York City 1968 und Scherer, Auswanderung Alzey, S. 371ff. Zurück
  9. Köhler, Manfred, Die besten Deutschen sind auch die besten Amerikaner – Zum 100. Todestag des aus Alzey stammenden Nestors der amerikanischen Journalistik Emil Praetorius (1827 – 1905), In: Heimatbuch des Landskreises Alzey-Worms 40 (2005), S. 70-72 und Scherer, Auswanderung Alzey, S. 377f. Zurück
  10. Böcher, Alzeyer Juden, S. 196ff Zurück
  11. Auswanderung aus der Pfalz, Artikel in der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ vom 6.2.1847 zu einer Auswanderungswelle um 1847 aus der Pfalz nach Nordamerika , http://www.alemannia-judaica.de/alzey_texte.htm#%22Auswanderungsfieber%22%20aus%20der%20Pfalz%20-%20auch%20aus%20dem%20Bezirk%20Alzey%20%281847%29  Zurück
  12. Böcher, Alzeyer Juden, S. 202 Zurück
  13. Heller-Karneth, Konfessionen, S. 80ff. Zurück
  14. Willeke, Gastarbeiter. Zurück
 
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